Oft schon habe ich mich gefragt, woher wir denn die Zeit nehmen wollen, all die Bilder und Filme, die wir mit Handys und Digitalkameras machen, anzuschauen; zumal ja die restliche Lebenszeit naturgemäß immer kürzer und das archivierte Bildmaterial, wenn wir nicht auf weitere Anhäufung verzichten, immer mehr wird. Eigenartig, dass schon im 18. Jahrhundert ein Autor – ganz ohne Filme und Fotos – ein ähnliches Problem hatte: Seine verbleibende Lebenszeit würde nicht ausreichen, auch wenn er 100 Jahre alt würde, um das zu erzählen, was er bis ins Alter von Mitte 40 erlebt hatte. Naja, ein Problem war es für ihn eigentlich nicht, vielmehr machte er mit Lust und Witz eine Methode daraus, nicht zur Sache zu kommen – zumindest nicht zu der, die wir von einer ordentlichen Autobiografie erwarten, die doch gewöhnlich mit der Geburt anfängt und dann die Ereignisse des Lebens in etwa in der Reihenfolge erzählt, in der sie geschehen sind.
Die Biografie von «Tristram Shandy» beginnt hingegen delikat mit den Bedingungen seiner eigenen Zeugung. Bei dieser, so erfuhr er später von seinem Onkel Toby, dem engsten Vertrauten seines Vaters, war etwas schiefgegangen, weshalb Tristram jetzt so ist, wie er ist – nämlich irgendwie nicht ganz normal. Hätten seine Eltern sich ordentlich klar gemacht, was sie taten oder tun wollten, als sie ihn zeugten, so sei er sicher, dass er «in der Welt eine ganz andere Figur vorgestellt haben würde», als die, in der ihn jetzt der geneigte Leser vermutlich erblicken wird. Dass seine Mutter ihren Gemahl just im entscheidenden Moment, in dem sie schwanger wurde, mit der absurden Frage: «Ei, mein Guter, hast du auch dran gedacht, die Uhr aufzuziehen?» irritierte, ist für den Erzähler Grund dafür, dass der «Homunculus» einen schiefen Weg ins Leben nahm. Seine Uhr wurde offenbar nicht richtig aufgezogen.
Im Zeitalter der Aufklärung, in dem Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman geschrieben wurde, geschieht nichts ohne Grund. Denn der Satz vom Grund ist das Prinzip aller Vernunft. Und all den Gründen nachzuspüren, die ein Individuum als dieses Besondere in der Welt auftreten lassen, das ist eines der «wissenschaftlich» exerzierten Anliegen dieser Autobiografie. Da kann auch der kleinste «Unfall» bei jener Reise, die so ein Wesen schon neun Monate vor seiner Geburt beginnt, die größten Konsequenzen haben und Ursache von irreparablen Schwächen des Leibes und der Seele sein, die kein Arzt oder Philosoph später mehr zu beheben vermag. Warum nun Tristrams Mutter ausgerechnet diese Frage stellte, erfährt der Leser und amüsiert sich darüber. Und noch andere Gründe für seine Behinderungen im Leben werden angeführt: etwa, dass der so ungeschickte Dr. Slop ihm bei der Geburt mit der Geburtszange die Nase eindrückte oder wie er durch die einfältige Kinderfrau und den in Vertretung des Pfarrers bei der Taufe agierenden Hilfsgeistlichen den so merkwürdigen Namen «Tristram» erhielt, wo doch sein Vater mit Bedacht den Namen «Trismegistos«, «der dreimal Größte«, ausgewählt hatte. Nichts ist ohne Grund, und doch: Je mehr Gründe wir kennenlernen, umso fraglicher wird, ob sie es wirklich sind, die dieses Leben bestimmen.
Um alle Zusammenhänge zu verstehen, hält es der Erzähler für nötig, den Leser genauer mit dem Charakter und den Geschichten der Personen bekannt zu machen, die zu seinem Lebensumfeld gehören. Da geschieht es schon mal, dass, als Sir Walter, der Vater Tristrams, seinen Bruder Toby nach den Gründen des Lärms im oberen Stockwerk fragt, wo sich gerade die Geburt des Helden ereignen will, der Autor den Gang der Dinge anhält. Denn, so sagt er, man könne die Antwort Tobys nur dann richtig würdigen, wenn man sich mit dessen Wesen bekannt gemacht hat. Deshalb erfährt man nun alles Mögliche über diesen Toby und sein «Steckenpferd», den Festungsbau, nur lange nichts über die Geburt des Helden.
Ja, bis dieser tatsächlich zur Welt kommt, muss sich der Leser noch bis zum dritten von insgesamt neun Büchern des Gesamtwerks gedulden, denn es müssen ja noch so viele Ursachen und Umstände angeführt werden, damit man die rechten Einsichten in dieses Leben bekommt.
Wir haben Zeit, wenn wir diese Bände lesen. Und wir unterwerfen uns gerne diesem ausufernden Kausalitätsprinzip, weil es köstlich ist, wie es ad absurdum geführt wird, ohne dass gesagt werden muss, wie aberwitzig es eigentlich ist. Man ist an Chaosforschung und Schmetterlingseffekt erinnert, wenn man dieses komplexe, nichtlineare dynamische System eines Lebens, das mit großer Empfindlichkeit auf die kleinsten Ursachen reagiert, verfolgt. Alles ist determiniert, und doch ist das Ergebnis dieses Erzählens wie überhaupt das Leben völlig unvorhersehbar. Das Prinzip heißt «Abweichung». Und wir können uns ausmalen, dass die ausgeführten Abweichungen gewiss nicht alle sind, die denkbar wären. Nichts geht in diesem Buch nach Plan, auch wenn es noch so viele Gründe und Verträge gibt, mit denen doch alles festgezurrt scheint. So kann z.B. auch der hoch komplizierte Ehekontrakt der Eltern, der alle Eventualitäten zu regeln sucht, nicht verhindern, dass alles anders kommt als erwartet.
Es sind nicht die äußeren Ereignisse, die diese Geschichte am Laufen halten. Sie sind nur der Auslöser für die verschlungenen Wege der Assoziationen und Reflexionen, die sich im Innern des Erzählers unerschöpflich generieren. Kein Stein bleibt auf dem anderen, wenn jeder Stein zum Anstoß für ab- und umwegige Geschichten wird. Auf diese Weise muss die Erzählung eines Lebens mehr Zeit in Anspruch nehmen als das Leben selbst. Aber das soll sie auch. Der Mann, der hier hinter vielen Masken sein Garn spinnt und dieses gründlich verheddert, tut dabei nichts, ohne alle Fäden gut in der Hand zu haben. Sein verwegener Witz, seine Zweideutigkeiten, seine Charaktere, die sogleich zu Karikaturen werden, sind einem hohen Bewusstsein zu verdanken, das genau weiß, dass das Leben kein ablaufendes Uhrwerk ist, obwohl er so tut, als wäre es eins: Der englische Schriftsteller und Pfarrer Laurence Sterne, der am 24. November seinen 300sten Geburtstag feiert, war so sehr Aufklärer, dass er sich über die allzu rationalen Ideen der Aufklärung hinwegsetzen und lustig machen konnte. Daran können wir noch heute unser Lesevergnügen haben und unser Bewusstsein schärfen. Friedrich Nietzsche nannte ihn zu Recht den «freiesten Schriftsteller» seines Jahrhunderts, der Tiefsinn und Posse souverän miteinander zu verbinden wusste und seine Zeit «nachhaltig» – wie man das heute nennt – und kreativer nutzte als wir die unsrige, wenn wir sie willkürlich mit Bildern beladen, die nur von unserer Zerstreutheit zeugen. Die Assoziationen und Abweichungen Sternes lohnen sich auch nach 250 Jahren noch, denn sind sie auch Tollheit, so haben sie doch Methode und offenbaren hinter allen Schrullen eine große Menschenkenntnis.