Günther Dellbrügger

Ringen um die innere Freiheit

Nr 169 | Januar 2014

Johann Gottlieb Fichte, dem Philosophen des Ich,
zum 200. Todestag am 29. Januar 2014


Am 2. März 1998 wurde Natascha Kampusch als 10-jähriges Mädchen entführt. Sie hatte sich vorgenommen, dass dieser Tag der erste Tag eines neuen Lebens sein sollte. Auf dem Weg zur Schule wird sie von einem Mann in einem weißen Lieferwagen geraubt. In einem Verlies unter einem gewöhnlichen Ein­familien­haus hält er sie achteinhalb Jahre gefangen.
Wie hat dieses Mädchen das ausgehalten, ohne zu zerbrechen?
Wie hat sie den Täter in Schach gehalten, der zugleich über acht Jahre lang ihre einzige Bezugsperson war? Wie hat sie es geschafft, an ihrem Plan: «Mit 18 will ich frei sein!» festzuhalten und ihn gegen alle Widerstände zu realisieren? Ihr ungebrochenes Über­leben ist umso bewundernswerter, als sie sich selber als unsicheres Mädchen schildert, das eine schwierige Kindheit hatte, im Wechsel­bad von Aufmerksamkeit und Vernachlässigung. Ihr starker Kern zeigt sich aber schon früh in dem Willen, zu lernen, Schwierig­keiten allein zu meistern.
Einige Wochen vor ihrer Entführung hatte sie durchgesetzt, allein zur Schule gehen zu dürfen. Sie wollte das, um ihre Angst selbst zu besiegen, von innen heraus stark zu werden. Die Entführungs­situation zeigt dieses Ringen: Als sie den weißen Lieferwagen sieht, schrillen in ihr die Alarmglocken. Hat sie auf irgendeine Weise gewusst, was sie erwartet? Sie entschließt sich, nicht auf die andere Straßenseite zu wechseln, sondern an dem Unbekannten vorbei­zugehen – als Mutprobe. Als sie ihm näherkommt, schwindet ihre Angst! Er strahlt etwas Schutzbedürftiges aus, verloren und sehr zerbrechlich ... In dieser Erstbegegnung blickt sie tief in die Psyche des kranken Täters. Er wirkt schutzbedürftig, verloren, schwach. Hier zeigen sich bei Natascha Kampusch schon zwei dem menschlichen Ich zugehörige Stärken: Mut und Empathie.
In ihrem Gefängnis angekommen, fragt sie offen: «Werde ich jetzt missbraucht?», und erhält die Antwort: «Dazu bist du viel zu jung, das würde ich nie tun.» Der Missbrauch durch den Täter ist subtiler. Er ist auf die Wahnidee verfallen, sich mit absoluter Macht die Nähe eines Menschen zu erzwingen, sich eine Sklavin heranzuziehen.
Auf dem kalten, nackten Boden ihres Verlieses findet sich Natascha Kampusch in absoluter Dunkelheit. Als der Täter mit einer Glüh­birne zurückkommt, geschieht in ihr etwas, ohne das sie wohl nicht überlebt hätte: «Ich akzeptierte, was passiert war.» Ihre Panik weicht einem gewissen Pragmatismus. Sie fügt sich, passt sich äußerlich an. Sie hat diese Form der Anpassung an die gegebenen Verhältnisse später eine Regression in ihre Kindheit genannt, durch die sie sich geschützt habe. Dadurch bewahrte sie sich einen inneren Raum, in dem Widerstands- und Durchhaltekraft wachsen konnten.
Der Täter übt einen sublimen Terror aus. Auf der einen Seite erfüllt er ihr nach und nach viele äußere Wünsche, andererseits foltert er sie durch quälende Helligkeit in den Nächten, Reizentzug zu anderen Zeiten, Hungerfolter, Beschallung.
Anstatt Hass zu entwickeln, erwachen in ihr der Wille und die Kraft, zu verzeihen. Sie versucht, den Täter als Menschen zu sehen, der nicht von Grund auf böse ist, sondern es erst im Laufe seines Lebens wird. Dies ist keine Relativierung oder gar Entschuldigung des Täters, aber es hilft ihr, ihm zu verzeihen und dadurch sich selber immer wieder von den Misshandlungen zu befreien.

«Ich habe ihm die Entführung verziehen und jedes einzelne Mal, wenn er mich schlug und misshandelte. Dieser Akt des Verzeihens gab mir Macht über das Erlebte zurück und ermöglichte mir, damit zu leben», schreibt sie in ihrem Buch 3096 Tage.
Instinktiv spürt sie, dass sie sonst zugrunde gegangen wäre. «Ich wäre auf eine Weise ausgelöscht worden, die viel schwerer gewogen hätte als die Aufgabe meiner alten Identität, meiner Vergangenheit.» Durch das Verzeihen – nicht durch den Hass – kann sie sich innerlich befreien; das Böse, das ihr zugefügt wird, kann sie nicht mehr erniedrigen und zerstören. Sie hat nicht sympathisiert und kooperiert, sie hat aus innerer Stärke hinter der Fassade der Unterdrückung und des Terrors den Menschen gesucht.
«Stärker sein. / Nicht aufgeben. / Niemals, niemals aufgeben.»

Wo ist die Quelle dieser inneren Stärke? Wir stehen vor einem großen Rätsel, ja vor einem Geheimnis, das Natascha Kampusch nur an wenigen Stellen andeutet: Sie lebt in einem inneren Dialog mit dem, was sie ihr «zweites Ich» nennt.
Eines Morgens bleibt ihr aus der Nacht ein vages Gefühl, dem sie erstaunt nachsinnt. Aus dem Schlaf bringt sie tiefe Entschlossenheit mit. Sie ist inzwischen 18 Jahre alt, fühlt sich stark und selbstbewusst. «Ich war nun erwachsen, mein zweites Ich hielt mich fest in der Hand.»
Aber es kommen neue Krisen, Phasen der Verzweiflung, verpasste Gelegenheiten … Die Beziehung zum Täter spitzt sich zu. Er spürt, dass sie sich ihm mehr und mehr entzieht. In einem letzten Versuch, seine absolute Macht zu beweisen, befiehlt er ihr, einen schwarzen Farbeimer rot zu nennen. Als sie sich weigert, wird sie fast bewusstlos geschlagen. Es ist sein letzter verzweifelter Versuch einer absoluten Machtergreifung. Er will nicht nur ihren Bewegungsraum, ihre Zeit, ihr Essverhalten, er will zuletzt ihr Bewusstsein kontrollieren und beherrschen. Wahrheit soll nicht sein, was sie durch Wahrnehmung und Denken schafft, sondern allein, was er ihr vorgibt. Schließlich konfrontiert sie ihn: Er solle sie umbringen oder freilassen. Er spürt, dass er mit seinen Plänen gescheitert ist. Dann gelingt ihr doch noch die Befreiung! Bei der Gartenarbeit klingelt sein Handy, er lässt sich ablenken, zum ersten Mal seit dem Beginn der Gefangenschaft lässt er sie aus den Augen. In einem «übermenschlichen Gewaltakt», angefeuert durch die Stimme ihres zweiten Ich, gelingt ihr die Flucht.

Im Älterwerden findet Natascha Kampusch eine Religion. Sie findet eine Religion im Ich. Sie erlebt die innere Spannung zwischen einem gewöhnlichen Ich und einem höheren, zweiten Ich. Entscheidend dabei ist die lebendige, treue Beziehung zu diesem Wesen und der Mut, sich dieser Beziehung immer wieder neu zuzuwenden, sooft sie auch verloren scheint; sie lebt eine Religion im Ich.
Sie offenbart sich als starke Persönlichkeit. Ihr Überlebenswille mündet in die Kraft, die Jahre ihrer Gefangenschaft als zu ihr gehörig anzunehmen. Sie lehnt nach ihrer Befreiung einen neuen Namen ab. Sie ist und bleibt Natascha Kampusch. «Ich bin Natascha Kampusch, ich wurde am 02.03.1998 entführt, und ich habe mich am 26.08.2006 selbst befreit.»