Die englische Jugendbuchautorin Rosemary Sutcliff (1920 – 1992) konnte wegen ihrer Krankheit (juvenile Arthritis) nicht zur Schule gehen, darum wurde sie von der Mutter unterrichtet, die ihr auch viel vorlas. Als die kleine Rosemary dann selber lesen sollte, gab sie die Bücher, die man ihr anbot, empört zurück. Diese kleinen Miniaturgeschichtchen entsprachen nicht ihrer Vorstellung von Büchern. Sie wollte lieber weiter der Mutter zuhören, und sie weigerte sich bis zu ihrem vierzehnten Jahr beharrlich, selber zu lesen. Weil sie Geschichten liebte, weil sie früh ein feines Gespür für gutes Erzählen hatte, wollte sie nicht lesen lernen.
Was für ein Widersinn! Aber leider liegt darin eine grundsätzliche Wahrheit. Kinder können beim Zuhören sehr viel komplexere Geschichten verstehen als beim Selberlesen.
Wie gehen wir heute mit dem Problem um? Muss es denn überhaupt ein Problem sein? Ist es denn zwingend notwendig, dass Kinder mit sechs oder sieben Jahren anfangen, selbstständig kleine Bücher zu lesen? Sollten wir ihnen nicht lieber Zeit lassen und weiter vorlesen? Das wäre eine gute Entscheidung, nur – noch ist der erste Wunsch und Wille des Kindes die Nachahmung, und viele wollen lesen. Aber was können sie schon lesen?
Wenn ich mit Kindern ins Gespräch komme, frage ich sie gern nach ihren Büchern. «Ja», verkündete die achtjährige Theresa stolz, «ich habe schon viele Bücher gelesen. Ich lese auch schon Bücher für Erwachsene.» – Oh, dachte ich und fragte Theresas Mutter. Die fand heraus: mit «Bücher für Erwachsene» meinte Theresa all jene, bei denen das Schriftbild deutlich kleiner ist als in ihrem Lesebuch.
Ist das so? Große Menschen kleine Schrift – kleine Menschen große Schrift – und schon stimmt die Bücherwelt.
Nun, es ist April 2014, Welttag des Buches, und man sollte sich erinnern: Der Welttag des Buches basiert auf einem großen Verlust. Es ist nun 398 Jahre her. Am 23. April 1616 starben sie beide, William Shakespeare und Miguel Cervantes. Und seitdem fehlen sie. Uns Erwachsenen natürlich. Können wir sie unseren Kindern nahebringen, indem wir Don Quijote und King Lear in Großdruck setzen? Theresa irrt sich. So geht es nicht. Aber doch so ähnlich.
Vor ungefähr dreißig Jahren begann der Oetinger Verlag die Reihe Sonne, Mond und Sterne, Großdruckbücher, die Kinder auch selbst lesen können; darin fand und findet sich allerbeste Kinderliteratur wie Lotta zieht um, von jener Autorin, die ich hier mal die «Miguel Shakespeare des Kinderbuches» nenne – und damit ist eine Erwähnung ihres wirklichen Namens nicht mehr nötig, oder?
Heute ist die Auswahl noch größer. Es entstanden weitere Bücher, schlicht und einfach in Wortwahl und Syntax mit ansprechendem Druckbild, die schließlich als «Erstlesebücher» zu einem eigenen Genre wurden. Und darunter wird sich für jedes Kind etwas Passendes finden. Da gibt es didaktisch durchdachte Reihen, die das Kind mit keiner weiteren Anforderung als der Auseinandersetzung mit der pragmatischen Fertigkeit des Lesens konfrontieren.
Und es gibt andere, die trotz reduzierter Sprache komplexer sind. Da kann das Kind zwischen den Zeilen lesen, es ist nicht alles erklärt und ausgesprochen, es gibt Probleme, über die das Kind nachdenken muss. Im Idealfall geht es mit dem Buch zu den Eltern, weil es Fragen hat, und es erlebt immer wieder etwas anderes, wenn es das Buch zum wievielten Mal liest. Hier kann es die überhaupt nicht pragmatische, die freie, die persönliche und Persönlichkeit bildende Fähigkeit des Zwischen-den-Zeilen-Lesens lernen. Diese Bücher haben Leerstellen, es bleibt Platz zum Denken.
Und damit meine ich nicht das rein analytische Denken, das wird durch Kontextfragen und Rätselspiele in den didaktisch geprägten Büchern ja durchaus gefördert. Aber die Kinder sind in dem Alter auch fähig zu nachdenklicher Anteilnahme, zu einem mitfühlenden, Empathie erweiternden Sich-Hineindenken in andere Befindlichkeiten. Und das geschieht durch selbstständiges Weiterdenken und Zwischen-den-Zeilen-Lesen. Sobald sie erste Leseerfahrungen hinter sich haben, finden sie Freude an solchen Büchern.
Sind damit alle Probleme gelöst? Wäre Rosemary Sutcliff heute mit acht Jahren eine eifrige Leseratte? Ich bezweifle das. Ein Erlebnis, das ich vor vielen Jahren hatte, beweist: Es gibt noch eine Schwierigkeit.
Es war an einem Sonnentag im Frühsommer. Meine kleinen Söhne durften etwas Besonderes genießen: Wir saßen in einem Café am Bodensee und auf dem Tisch standen – Eisbecher! Konstantin (gerade fünf Jahre) leckte über die Stracciatellakugel, seine nun vanille- und schokogestreifte Zunge verschwand in seinem Mund und er sagte: «Hm, das mundet!» Der dreijährige Ferdinand hob den Kopf aus dem Eisbecher, im Gesicht verteilt die gesamte Eiskarte, und er bestätigte verzückt: «Ja, das mundet!» Die wortverliebte Mutter der beiden Jungen verschluckte sich an ihrem Eiskaffee. Woher haben sie das Wort?, dachte ich. Es stand in einem Märchen, war mir klar. Die Bremer Stadtmusikanten zum Beispiel lassen sich das Essen munden. Natürlich habe ich den Kindern Märchen vorgelesen. Wieder und immer wieder. Mit drei Jahren konnte Konstantin den gesamten Froschkönig auswendig. Bei den häufigen szenischen Aufführungen mit einem Badeschwamm als Frosch (der beim Wurf an die Wand nie zerbrach), einer Murmel als goldenem Ball und einem Tannenzapfen als Prinzessin konnte ich erkennen, dass er es auch verstanden hatte. – Und der erste Satz dieses Märchens besteht aus 42 Wörtern. Zweiundvierzig!
Keines der Bücher für Leseanfänger hat eine auch nur ähnliche Sprache. Damit wären die Kinder hoffnungslos überfordert. Also können wir ihnen den Kulturschock von der Vorlesezeit zum Selberlesen nicht ersparen? Doch!
Ich erinnere mich an ein Interview, das ich vor Jahren mit einem Schauspieler führte. Auf meine Frage, wann und wie er zum Theater gefunden habe, antwortete er: «Durch meinen Vater. Da war ich fünf.»
Der Vater hatte ihm vorgelesen, rezitiert, deklamiert, meist Shakespeare, oft im Original, und der kleine Junge saß mit großen Augen auf dem Teppich, verstand nichts, aber nahm mit allen Sinnen diese Sprache auf. Diese Sprache! Viele Kinder (die meisten, vielleicht alle?) haben für Sprache ähnlich offene empfindsame Ohren wie für Musik.
Mein Tipp zum Welttag des Buches: Lesen Sie den Schulkindern mal wieder etwas vor! Es muss ja nicht gerade Hamlet sein. Shakespeare und Cervantes sind souverän genug, um gelassen zu ertragen, dass man ihnen hier Andersen vorzieht oder Kipling oder …