«Ich will, ich will mein Gesicht zeigen! Ich will, gerade mitten im Leben, das Wunderbarste in mir erreichen. … Ich will verausgaben, was mir mitgegeben wurde, um das zu erreichen, was mir dargeboten wurde – …, denn ich werde mich plötzlich im Zentrum dieser Welt wiederfinden, die allein ich kenne.»
Diese feurigen Zeilen schreibt der 20-jährige französische Schriftsteller Henri Alban Fournier am 29. Juni 1907 an seinen besten Freund und späteren Schwager, Jacques Rivière. Fournier quält sich gerade mit der Examensvorbereitung, die er im selben Brief als krank machend beschreibt. Hin und her springt er zwischen der Not, übergroße Stoffmengen büffeln zu sollen (er wird die Aufnahme zur Eliteuniversität erneut nicht bestehen) und dem biographischen Ziel, auf «brennendem Weg» überall seinen Durst zu stillen, wie er fortfährt, und mit ausgebreiteten Armen die Welt zu umfassen.
Alain-Fournier – unter diesem Namen publizierte er, um nicht mit einem gleichnamigen Rennfahrer verwechselt zu werden – brauchte noch fast die ihm verbleibenden sieben Jahre, um Le Grand Meaulnes zu vollenden, einen der bis heute meistgelesenen französischen Romane. Vor 100 Jahren, im September 1914, fiel der Schriftsteller gleich am Anfang des Ersten Weltkriegs, noch nicht 28-jährig.
«Seine Welt» ist äußerlich die des Lehrersohns François Seurel. Aus der Ich-Perspektive schildert er die Begegnung mit Augustin Meaulnes («Mohn» ausgesprochen), einem älteren Mitschüler, dessen Liebesgeschichte und die daraus folgenden abenteuerlichen Verwicklungen. Alain-Fournier bekannte dem Freund Rivière schon 1906, sein Credo in Kunst und Literatur sei die Kindheit. Die Erzählung spielt im liebevoll dargestellten ländlichen Frankreich kurz vor 1900, ohne Elektrizität oder Autos, aber mit impressionistisch zu nennenden Landschaftsschilderungen. Alain-Fournier nimmt uns mit in ein Zwischenreich, wo Poesie in Traum übergeht.
Innerlich erleben wir ein zeitloses Aufbruchsdrama mit, dessen Suchbewegungen nach Werten, Beziehungen und Aufgaben die Jugendphase charakterisieren. Ideale wie das der reinen Liebe und des nicht zu brechenden Versprechens, egal welche persönlichen Folgekosten entstehen, kontrastieren mit Ichbezogenheit, die keine Rücksicht auf Konventionen oder Verletzlichkeiten anderer Menschen nehmen kann. Zusammen mit dem Ich-Erzähler machen wir langsam einen Übergang von der Unbeschwertheit der Kindheit zum Erwachsenwerden mit Verantwortung durch, erleben Enttäuschungen und balancieren an Abgründen entlang – fühlen uns an Parzivals Entwicklungsaufgaben erinnert.
Wenn man Alain-Fourniers private Briefe liest, versteht man, welche Sehnsucht in ihm lebte, wie er nur mühsam ins Formulieren fand und immer wieder mit dem Scheitern rang. Schon als lesehungriges Kind wollte er Schriftsteller werden, dachte dabei zunächst an Poesie.
Auslöser für sein Hauptwerk bildete ein Erlebnis im 19. Lebensjahr in Paris – die Begegnung mit einer ihm unbekannten schönen jungen Dame, Yvonne de Quiévrecourt. Es war das wohl prägendste Ereignis seines kurzen Lebens. Am Himmelfahrtstag 1905 schritt sie, an der Seite ihrer Großtante, am Grand Palais eine Treppe herab; unten angekommen blickte sie ihm kurz in die Augen. Er empfand eine Reinheit und Seelentiefe, sodass sein Herz sofort entflammt wurde. Doch gestatteten die Sitten damals nicht, dass er sie ohne Weiteres ansprach. So folgte er den beiden Damen unauffällig zu einem Wohnhaus. Gut zehn Tage später gelang es ihm, einige Worte mit Yvonne zu wechseln und dabei ihren Namen zu erfahren. Wie groß war seine Enttäuschung, als er ihr Desinteresse an ihm zur Kenntnis nehmen musste – und ein Jahr darauf von ihrer Verlobung hörte.
Aus dieser Suche nach einer realen Person entwickelt Alain-Fournier die Ideen seines Romans. Ohne den autobiographischen Hintergrund überzustrapazieren, kann man verstehen, inwiefern sein Schicksal die Grundlagen für sein Werk lieferte – sowohl Seurel als auch Meaulnes tragen Züge ihres Autors. Dessen zahllose Briefe (in der gedruckten Form über 1.200 Seiten) geben uns Auskunft über seinen Seelenzustand, die Entwicklungsstadien des Romans und seine Versuche, Leben, Geldverdienen und Schreiben unter einen Hut zu bringen.
Über Jahre stieß Alain-Fournier sich an den hohen schulischen Anforderungen ohne Inspiration, danach an der Primitivität des Kasernenlebens auf dem Weg zur Offizierslaufbahn, die er 1907 bis 1909 verfolgte. Während dieser Zeit begann er, einzelne Kapitel zu formulieren, verwarf sie, suchte einen Titel (zeitweilig favorisierte er Das namenlose Land) und reiste in den Ferien immer wieder an die Orte seiner Kindheit, wo er Eindrücke auffrischte und die alltäglichen Details so beschrieb, dass seine Gefühle sich darin widerspiegeln. Er litt am Leben und an seiner eigenen Unfähigkeit, den Abenteuerroman (so 1910 genannt) in der Art zu Papier zu bringen, dass er damit zufrieden sein konnte; die Briefe bezeugen seine Selbstzweifel.
Ab 1909 verdiente Alain-Fournier seinen kargen Lebensunterhalt durch die freie Mitarbeit an der Tageszeitung Paris-Journal und als Privatsekretär. Verschiedene Beziehungen zu Frauen erweiterten seine Lebenserfahrung, ließen aber das Bild Yvonnes nicht verblassen. Der Journalist korrespondierte mit namhaften Zeitgenossen und nahm intensiv am literarischen Leben Frankreichs teil. Als Le Grand Meaulnes 1913 erschien, fehlte Alain-Fournier nur eine Stimme zum renommiertesten Literaturpreis Frankreichs, dem Prix Goncourt.
Auch andere Künste beobachtete er genau, so erlebte er 1913 die Uraufführung von Strawinskys Le sacre du printemps, die zum Skandal geriet, oder das Erscheinen des ersten Bandes von Prousts A la recherche du temps perdu. Alain-Fournier war vermutlich ganz einverstanden gewesen mit Prousts Definition, dass die einzigen Paradiese diejenigen sind, die man verloren hat. – Diese Welt Alain-Fourniers ging mit dem Ersten Weltkrieg unter, der auch so vielen anderen europäischen Künstlern das Leben nahm.
Eine Französin oder einen Franzosen nach Le Grand Meaulnes zu fragen, ist ein ziemlich sicheres Mittel, ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern und einen träumerischen Blick … Der große französische Theaterschriftsteller Eugène Ionesco las dieses einzige vollendete Werk Alain-Fourniers seiner Tochter bei Kerzenlicht vor und sagte, er halte es nicht für ein literarisches Buch, sondern für ein Meisterwerk der Literatur.