Das Kind bewegte sich zum ersten Mal. Nur ein kleiner Tritt, aber der war deutlich durch die Bauchdecke zu spüren und signalisierte: Hier bin ich. Tove Janssons Mutter Signe Hammarsten Jansson ging in Paris spazieren und war gerade in eine Straße gelangt, die Rue de la Gaité – Freudenstraße – hieß. War es ein Omen, dass das ungeborene Kind gerade in der Freudenstraße auf sich aufmerksam machte? Bedeutete es, dass es glücklich werden würde? Auf jeden Fall sollte es der Welt einmal mächtig viel Freude bereiten.
Die Zeiten waren schwierig. Kriegsgefahr lastete auf Europa wie die schwüle, stickige Luft vor einem Gewitter. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb pulsierte ein intensives Leben in der Kunstwelt. In Paris entstanden Kunstrichtungen wie Kubismus, Surrealismus und Fauvismus, und in der Stadt lebten Schriftsteller, Komponisten und bildende Künstler, auf deren Namen das gerade beginnende Jahrhundert schwören sollte. Mitten unter ihnen lebten auch die erst vor wenigen Monaten Vermählten Viktor Jansson aus Finnland und Signe Hammarsten-Jansson aus Schweden. Und ihre noch ungeborene Tochter. Als Tove Jansson am 9. August 1914 in Helsinki geboren wurde, war der Erste Weltkrieg bereits ausgebrochen.
Ich begegnete Tove zum ersten Mal im Jahr 1995, als sie 81 Jahre alt war. Ich machte eine Ausstellung über den einige Jahre zuvor verstorbenen Sam Vanni und interessierte mich für seine und Toves gemeinsame Zeit in den 1930er und 1940er Jahren. Vanni war auch mir ein sehr lieber und enger Freund gewesen, über dessen Kunst ich einige Jahre zuvor promoviert hatte. Ich befürchtete, dass Tove nicht die Zeit und die Kraft für das Treffen hätte, doch sie war bereit, mich zu empfangen. Wir saßen in ihrem Turmatelier in der Ullanlinnankatu und Tove erzählte von ihrer Jugend, von Sams Art zu lehren und von ihrer Freundschaft. Überraschend schlug sie vor, ein wenig Whisky zu nehmen. Und so tranken wir denn Whisky und rauchten Zigaretten, wie es damals üblich war. Und aus der Interviewten wurde eine Interviewerin. Jetzt durfte ich alles von Sam erzählen. Und wir stellten fest, dass noch manch andere wichtige Person aus ihrem Leben auch meines gestreift hatte. Tapio Tapiovaara zum Beispiel kannte ich recht gut, auch Tuulikki Pietilä und Vivica Bandler war ich häufig begegnet.
Das zweite Mal war ich in Toves Atelier, während ich an ihrer Biografie arbeitete und ihr Archiv sichtete. Ich saß monatelang allein im Turmatelier und las in den Briefen. Das Atelier sah immer noch fast genauso aus wie zu Toves Lebzeiten. Auf der Staffelei stand ihr Selbstporträt Die Luchsboa (1942), das mich direkt anblickte. Tische und Fensterbretter waren mit Muscheln und Borkenschiffen bedeckt, die Wände mit einer riesigen, vom Boden bis zur Decke reichenden Bibliothek und dicht an dicht aufgereihten Bildern. Die Wände in der Toilette schmückten Fotos, die Tove aus verschiedenen Zeitungen ausgeschnitten hatte, Katastrophen, untergehende Schiffe und stürmische Meere. Alles war so wie einst, als sie noch lebte. Ihre Anwesenheit war deutlich zu spüren.
Auf eigenartige Weise erweckten Toves Briefe vor allem die 1940er Jahre wieder zum Leben, den Krieg und die nachfolgende Phase der Erholung. Man bekam einen Eindruck davon, wie sich der Krieg für eine Frau anfühlte, die gerade in dieser Zeit ihre Jugend hätte genießen, eine Karriere aufbauen und den Rahmen ihres Lebens abstecken müssen. Und wie es sich anfühlte, als der Krieg endete. Am wichtigsten waren die Briefe, die sie an Eva Konikoff nach Amerika geschickt hatte: ein großer Stapel, Bögen aus dünnem Seidenpapier, mit winzig kleiner Handschrift beschrieben, manche von der Militärzensur geschwärzt oder regelrecht zerschnippelt.
Tove empfand jene Zeit als sehr schwer und mochte später nicht einmal mehr an den Krieg denken. Vergeudet waren die Jahre dennoch nicht, auch wenn sie das selber manchmal behauptete. Gerade damals entstanden viele der für ihr Leben und Schaffen wichtigsten Dinge, entstanden und fanden ihre Lösung. Mitten im Krieg und wegen des Krieges schuf sie ihre ersten Mumingeschichten, reifte sie als Malerin und malte eine wunderbare Serie von Selbstporträts und zeichnete außerdem ihre einzigartig mutigen Kriegskarikaturen.
Die Arbeit und die Liebe waren Tove Jansson – wie schon ihr Exlibris «Labora et amare» (sic!) deutlich macht – zeitlebens am allerwichtigsten. Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Toves Leben und ihre Kunst sind eng miteinander verknüpft. Sie beschrieb und malte ihr eigenes Leben, und die Motive lieferte ihr das Umfeld – ihre Freunde, ihre Inseln, ihre Reisen, ihre persönlichen Erfahrungen.
Ihre Lebensleistung ist enorm. Eigentlich müsste man im Plural davon sprechen, denn sie absolvierte mehrere komplette Karrieren: als Illustratorin, als Kunstmalerin, als Schriftstellerin, als Bühnenbildnerin und Dramaturgin, als Dichterin, als politische Karikaturistin wie auch als Comiczeichnerin. Ihre Produktion ist so umfangreich, dass jeder, der darüber schreibt, fast an der Menge erstickt. Ich kam mir vor wie Tante Gerda aus Toves Buch (Lyssnerskan 1971, dt.: Die Zuhörerin), die beschloss, eine Karte anzufertigen, aus der die Beziehungen zwischen ihren Freunden und Verwandten hervorgingen. Aber die änderten sich ständig, das Bild musste laufend korrigiert werden, und es gab kein Papier, das ausgereicht hätte, sie darzustellen. Tante Gerdas Arbeit wurde nie fertig. Nichts bleibt jemals stehen, und die Zeit verändert auch das Vergangene. Ja, manchmal scheint es, als ob vor allem das Vergangene anfällig für Veränderungen wäre … Je eingehender man es betrachtet, desto vielschichtiger wird das Bild. Das trifft besonders auf Tove Jansson zu, die so viele verschiedene Dinge gleichzeitig machte.
Die Vielseitigkeit und die Breite ihres Schaffens hatte auch Einfluss auf die Struktur meines Buches. Es basiert auf zeitlichen wie auch thematischen Komplexen und findet einen Kompromiss zwischen ihnen.
Mein Ziel war es, mich nicht nur auf Tove Janssons Kunst zu konzentrieren, sondern sie auch als Teil ihrer Zeit, der damaligen Wertvorstellungen und Kulturgeschichte zu zeigen. Denn gerade aus diesem Blickwinkel erscheint ihr Leben außerordentlich interessant: In einem Land, in dem noch die alten Vorurteile vor allem bezüglich des Sexualverhaltens herrschten, stellte sie die gewohnten Denk- und Moralregeln infrage. Sie war eine Revolutionärin, aber nie eine Verkünderin oder Volksaufwieglerin. Sie wirkte auf die Werte und die Denkweise ihrer Zeit ein, war aber keine Bannerträgerin, sondern lebte still und dennoch vorbehaltlos nach ihren eigenen Regeln. Die anerkannte Stellung, die Unabhängigkeit, Kreativität und Wertschätzung der Frau waren für sie absolut wichtige Werte. Sie selbst begnügte sich nie mit der Rolle einer Durchschnittsfrau, weder beruflich noch in ihrer Lebensweise. Bereits als kleines Mädchen schrieb sie: «Freiheit ist das Beste von allem.»
Die blieb ihr das ganze Leben hindurch am allerwichtigsten.