Die Urne mit ihrer Asche war unerwartet schwer. Wir gingen auf einem Forstweg vom Auto bis zu der Hainbuche, unter der sie beigesetzt werden sollte. Der Blick auf die Tiefebene unterhalb der Burg Hohenentringen ging in die Weite bis zum Horizont, und der seit mehr als einer Woche trübe Winterhimmel hatte sich gerade aufgelockert. Während meine Frau ein Gespräch mit der Försterin führte, zog in Gedanken der Lebensweg meiner Mutter an mir vorüber, sowohl die Zeit, die ich nur aus ihren Erzählungen kannte, wie auch all das, was ich davon miterlebt hatte. Sie hatte mich geboren. Sie hatte für mich gesorgt. Sie hatte kaum Ansprüche für sich gestellt und solange sie sich erinnern, denken und sprechen konnte, mich bei jedem Besuch immer gefragt, ob es mir denn auch gut gehe. Hinter ihrer eher pragmatischen und tätigen Lebenshaltung, die meist den vernünftigen Weg gewählt hatte, kam dann in ihrer späten Altersphase auf einmal eine zuvor ungekannte Gefühlswärme zum Vorschein. Wer meine Mutter eigentlich war, blieb mir ein Rätsel. Dann aber trat sie unerwartet in Erscheinung.
Als ich nachmittags in ihr Zimmer trat, voller Sorge, dass sie unter ihrer Lungenentzündung leiden, husten oder gar nach Luft ringen würde, lag sie ganz still mit geschlossenen Augen da. Ich legte meine Hand an ihre Wange, die rosig und warm war, und begrüßte sie. Aber sie rührte sich nicht. Ich hielt den Atem an, aber sie hatte aufgehört zu atmen. Nur langsam wurde mir das klar – wurde mir klar, dass sie gerade eben die Schwelle betreten hatte, die die Lebenden von denen trennt, die wir die «Toten» nennen. Ich schloss behutsam die Tür ihres Zimmers, zündete eine Kerze an und setzte mich neben sie.
In dem Maße, in dem die Wärme aus ihrem Leib wich, wurde mir meine Mutter innerlich spürbar. Ich erlebte sie in der Wahl dieses Augenblicks zum ersten Mal seit Langem als Handelnde und zugleich ganz neu. Sie war nicht das Opfer ihres Todes, sondern seine Frucht. Sie handelte in der Wahl dieses Augenblicks, in dem ich gerade von der Arbeit kam, nicht alltäglich. In dieser Wahl sprach sie zu mir und brachte mir ihr letztes Geschenk.
Wenn das Leben eine Geschichte ist, dann steht der Mensch als der «Held» dieser Geschichte zusammen mit all den vielen Menschen, die zu seiner Geschichte gehören, in einem Handlungszusammenhang. Wir tun, was erforderlich ist, um unsere Aufgaben zu bewältigen, und tun es mit mehr oder weniger Bewusstsein. Immer aber bleibt unwägbar, wie unser Handeln mit der Welt zusammenstimmt. Jetzt erlebte ich sie als die, die sich selbst dabei über die Schulter geschaut hatte. Mehr noch: Jetzt war sie die, die die Geschichte ihres Lebens «geschrieben» hatte. Als die Hauptfigur ihres Lebensromans hatte sie zugleich diese Geschichte durchlebt, hatte darin gehandelt und gelitten, war glücklich und unglücklich. Im Todesaugenblick hatte sie sich mir dann als der Lebensautor offenbart, der außerhalb von Geburt und Tod steht. Ihre Lebensgeschichte war natürlich kein Drehbuch, dessen Rolle sie als ihre Hauptfigur dann nur noch ausgefüllt hätte. Sicherlich hatte sie als die Schriftstellerin ihrer Biografie, ihrer Lebensschrift, auch über manchen Schritt und manche Entwicklung ihrer Heldin gestaunt. Das Werk einer solchen Lebensgeschichte ist eine Gemeinschaftsproduktion von Lebensautor und Lebensheld – abgesehen von vielen weiteren Ereignissen, die wie Kometen in die Geschichte einschießen. Aber es gibt in jedem Menschen eine Instanz, die aus einem größeren Überblick heraus handelt, als wir ihn in unserem Alltagsbewusstsein finden. Diese Seite ihres Wesens hatte mich jetzt angesprochen.
Die Rolle des Erzählers hatte sie schon lange an mich abgegeben. Nur ich wusste noch von der intensiven Brieffreundschaft zwischen ihr und meinem Vater während der Wirren des Kriegsendes und der Kriegsgefangenschaft meines Vaters, nur ich wusste von dem liebevollen und unendlich weitherzigen Wesen ihrer Mutter, meiner Großmutter, deren Bild im Pflegeheim über ihrem Bett hing. Sie wusste es nicht mehr, und sie erkannte schließlich auch mich nicht mehr. Mit bald 91 Jahren lag sie still in ihrem Bett, machte immer seltener einen Versuch mit der Sprache, die ihr nicht mehr gehorchen wollte. Und ich trauerte schon lange darüber, dass sie sich so langsam zurückgezogen hatte, dass mir gar kein Abschied möglich war, und darüber, dass diese Situation eigentlich einen Sohn mit ganz anderen Fähigkeiten forderte, als ich sie mitbrachte oder zu entwickeln willig war.
Einen in der Erinnerung herausragenden glücklichen Zusammenklang zwischen ihr und mir und zugleich auch zwischen ihr als dem Lebensautor und dem Lebenshelden erlebte ich, als ich sie einmal im Rollstuhl an blumengefüllten Schrebergärten entlangschob. Plötzlich erhob sie die Stimme und sang mir ein Lied: «Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß, hat ein’ Zettel im Schnabel, von der Mutter ein’ Gruß.» – Das Lied selbst, hier und jetzt gesungen, war der Brief, den ich von meiner Mutter bekam. – Jetzt aber, nochmals Jahre später beim Schein der Kerze in ihrem Zimmer, wurde das Leben endgültig. Der unmöglich geglaubte Abschied ereignete sich zugleich mit dem Eintritt in eine neue Verbindung. Der Schmerz der Trennung und zugleich ein unerhörtes Gefühl der Heiligkeit breiteten sich aus. Und im Rückblick wurde mir dann bewusst, dass ich bei aller Trauer und Erschütterung tatsächlich glücklich war.
Was heißt hier glücklich? Kann das sein? Glücklichsein heißt, auf unerwartete und willentlich nicht herbeiführbare Weise die Grenzen des eigenen Wesens zu durchbrechen. Nicht nur Unglück, sondern auch Lust ist ein Gegenpol des Glücklichseins. Lust engt den Horizont ein oder verstellt ihn, Unglück verdunkelt ihn. Lust ist ein Gefühl, Glück ist eine Stimmung, ein Zusammenklang und deshalb ein musikalisches Phänomen. «Alle Lust will Ewigkeit», dichtet Nietzsche im Zarathustra. Glück sucht keine Ewigkeit; es ist der Einbruch der himmlischen Zeit in die irdische Zeit, und manchmal erleben wir das erst im Rückblick.
Die Försterin führte uns auf einem Pfad zu dem Baum, den wir im Sommer für diesen Augenblick ausgesucht hatten. Damals war es hell und warm, nun war es Winter, und seit Tagen stürmte es. Aber der Himmel hatte sich für wenige Stunden genau jetzt geöffnet, und die Sonne schien hell auf den Ort, an dem meine Frau und ich in absolutem Einklang mit den zuvor gewählten Sprüchen und Gebeten die Urne der Erde übergaben.