Viele Stunden habe ich im Atelier einer Bildhauerin verbracht. Manchmal war es wie in einem Handwerksbetrieb, an anderen Tagen verbreitete sich die Atmosphäre einer Galerie in der staubigen Künstlerwerkstatt. Still beobachtete ich: Ein weißer Felsblock – zunächst noch unberührt. Ein blendender Stein – grell-gleißend reflektiert er die Sonne. Die Künstlerin setzt den Meißel an, bricht auf, bezwingt, zähmt und formt. Im Rhythmus der Schläge tritt Figur hervor, schält sich aus dem Grund, erwacht mehr und mehr. Noch schallt es wie das Wort des ersten Menschen – unbestimmt, ob Form oder Chaos, noch schlägt Echo zurück. Rohheit und Disharmonie klaffen in die Zeit. Im Zustand eines unbestimmten Fiebers setzt sie den Meißel wieder und wieder an, Schlag um Schlag. Trümmer, Splitter, Staub. Fast unbemerkt langsam tritt mir Schöpfung entgegen. Nicht länger stößt mich kalter Stein von sich – die junge Figur fordert mich zum Tanz. Ich bewege mich. Sie wird lebendig. Der Stein tritt hinter das Kunstwerk zurück. Es geschieht. Was zuvor noch roher Felsblock, ist Form geworden. Ich staune. Schönheit offenbart sich mir im Tanz mit der neuen Schöpfung.
Es ist keine Idee von Schönheit, die mir entgegentritt, kein Glanz von Natur- oder Kunstschönheit, des unbearbeiteten Steines oder der gewordenen Skulptur. Ein Drittes manifestiert sich zwischen dem Werk und mir. Mit einem Gang in die Unterwelt möchte ich versuchen, mich dem oben empfundenen Begriff der Schönheit zu nähern. An der Hand des Sängers Orpheus begebe ich mich über den Styx in den Hades – suche die Schönheit in der lichtlosen Schattenwelt: Durch einen Schlangenbiss stirbt Eurydike in der Blüte ihrer Jugend. Der Sänger Orpheus verliert seine Gattin und die Freude seines Lebens. Aus seinem Leiden bittet er um Zugang zur Unterwelt, um Zugang zu seiner geliebten Eurydike. Kraft seines zaubernden Gesanges gewährt ihm selbst der dreiköpfige Höllenhund Kerberos Einlass – er, der den Eingang des Hades bewacht und dafür sorgt, dass kein Lebender ihn betritt und kein Toter ihn verlässt. Orpheus steigt in die Dunkelwelt und findet Gnade: Er darf seine Gattin ans Tageslicht führen, doch wenn er sich beim Aufstieg zu ihr umwendet, wird sie ihm wieder genommen.
Persephone übergibt Orpheus seine Gattin. Er nimmt ihre Hand und will sie zum Licht führen. Doch er wendet sich zu ihr um, blickt sie an. Er kann sich dem Blick nicht entziehen. Eurydike ist gezwungen, sich dem Blick zu entziehen, und fällt zurück ins Schattendasein. Orpheus tötet Eurydike erneut, nachdem es zuvor die Schlange getan hatte. Zweimal verloren muss er Eurydike zurücklassen, und freudlos kehrt er in die Tagwelt heim. Sein verzweifelter Gesang wird endlos um die Verlorene kreisen. Orpheus hat versagt, und auf dieser Ebene können wir ihn verurteilen. Er hat die außergewöhnliche Möglichkeit, die Verstorbene zu retten, vertan.
Was ereignet sich im verbotenen Blick? Der Blick des Orpheus,* ein Essay des französischen Schriftstellers und Literaturtheoretikers Maurice Blanchot (1907–2003), kann als Anregung dienen, sich dieser Rätselfrage anzunähern. Folgen wir Blanchots Gedanken, gewinnt jener «Blick» eine andere Bedeutung – eröffnet sich eine Deutungsdimension hin zur Schönheit: «Der Blick des Orpheus entlässt die Nacht aus ihren Bindungen, sprengt die Grenzen auf, bricht das Gesetz, das alles Wesentliche festlegte und festhielt. Der Blick des Orpheus ist also der extreme Moment der Freiheit, der Augenblick, da sich Orpheus von sich selbst befreit, die sakrale Festlegung durch das Werk befreit und sich selbst sakralen Charakter verleiht: sich selbst, das heißt der Freiheit seines Wesens, seinem Wesen, das Freiheit ist.»
Der Blick des Orpheus ist der Moment, in dem am Bestimmten das Unbestimmte, am Realisierten das Unrealisierte, am Fasslichen das Unfassliche kenntlich wird. Ein Riss in der gedeuteten Welt. Eine Unterbrechung des Kontinuums der biografischen und historischen Zeit. Absolute Gegenwart oder Schönheit. Schönheit als eine sich in Freiheit manifestierende Gegenwärtigkeit.
Wenn Orpheus zu Eurydike in die Unterwelt hinabsteigt, versucht er zu sehen, was die Mitte der Nacht verbirgt. Im Blick vollzieht sich etwas zwischen Orpheus und der verstorbenen Eurydike – zwischen Orpheus und dem Geheimnis der Nacht. Weder Eurydike als solche repräsentiert Schönheit, noch der Gesang oder Orpheus selbst ist die Schönheit. Was Wesen und Geheimnis des Schönen ausmacht, ist ein Drittes, das über den Einzelnen steht – die Begegnung, ein Moment, der aus Zeit und Raum fällt. Keine verhüllende Maske, kein blendender Schein, sondern existenzieller Einschlag von Gegenwart, Geist, Inspiration: Der verbotene Blick wird zum «inspirierten» Blick.
Hier kehre ich zum Anfang zurück. Schönheit begegnet mir mit Maurice Blanchot in der Inspiration. «Der Blick des Orpheus entlässt die Nacht aus ihren Bindungen, sprengt die Grenzen auf, bricht das Gesetz, das alles Wesentliche festlegte und festhielt.» Im Augenblick der Entgrenzung, der Entfesselung – hier in einem Gegenbild zur Harmonie – kann Schönheit erscheinen, durch die Zügellosigkeit und Sorglosigkeit des Erlebens.
Mein «Tanz mit der Skulptur» meint diesen Entgrenzungsmoment: Weder der rohe Stein noch die fertige Skulptur sind für mich Schönheit. Es ist vielmehr das, was dazwischen geschieht: zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen der werdenden Form und mir (oder der Künstlerin). Es ist der Moment des inspirierten Blicks – eine Zwischenerfahrung von reiner Gegenwärtigkeit. An dieser Grenze fallen die gewohnten Vorstellungen und Begriffe in sich zusammen: Eine Träne zersplittert – Schönheit erscheint als Paradox von ewiger Gegenwart.
Was geschieht im Atelier zwischen Splitter und Staub? Langsam entsteht eine Skulptur, und in ihrem Werden erlebe ich sie mit einem Mal in all ihrer Schönheit – es ist ein Moment, der sich der Zeit enthebt, ein Griff in das Herz der Gegenwart. In dem Moment, wenn das absolut Andere auf mich einschlägt, wird durch mein Erwidern etwas Drittes gezeugt und geboren – Schönheit geschieht.