Vorsicht ist geboten. Schließlich ist es nicht allzu unwahrscheinlich, dass ein Akademiker mit ausreichend gefülltem Kühlschrank beim Nachdenken und Sprechen über das sogenannte «Wesen des Seins» – was auch immer das sein mag – den Boden unter den Füßen verliert. Das liegt nicht in erster Linie an der schieren Unerschöpfbarkeit der Sache, sondern an ihrer erbarmungslosen Abstraktheit. Zwar weiß jeder in etwa, was mit «Sein» gemeint ist, allerdings nur solange man darüber aus einer gewissen Distanz spricht. Betrachtet man es von Nahem, so verschwimmen die Konturen recht rasch – und man landet schneller als einem lieb ist beim Versuch, in diesem Nebel irgendetwas zu erkennen, in der philosophischen Esoterik, die nur einen Steinwurf entfernt ist.
Verschlägt uns ein solches Nachdenken einmal nicht in jene intellektuellen Gefilde, die weit abseits gesellschaftlicher Realität liegen, so gibt es vermutlich bloß den Blick frei für eine banale Traurigkeit über die Sinnlosigkeit des Lebens. Warum also überhaupt danach fragen, was hier sein heißt?
Dass wir meinen zu wissen, was dieses «Sein» sein soll, rührt von den seltenen Momenten, in denen es uns praktisch auf der Zunge liegt, uns scheinbar klar vor Augen steht. Es überfällt einen wie ein Tagtraum. Fast jeder kennt dieses plötzlich aufblitzende und bizarre Bewusstsein für das gleichzeitige Existieren aller Dinge; für die Tatsache, dass ich in exakt diesem Moment an meinem Schreibtisch sitze, während draußen die Müllabfuhr vorbeifährt, meine Frau gerade in der Uni ist und irgendwo auf dem Planeten all jene Menschen herumlaufen, die ich jemals getroffen habe usw.
Schön und gut. Doch was bleibt von diesem unwirklichen Gefühl für das Jetzt? – Mir schien es immer verschenkt, wenn es zu einer abstrakten Größe in einem logischen System des Denkens reduziert wurde; wovor auch ich mich hüten muss. Damit will ich sagen: Die Vorstellung, sich dem «Wesen des Seins» – was auch immer das sein mag – zu nähern, indem man nur ausdauernd genug darüber nachdenkt und dabei mit immer neuen Größen hantiert (Seiendes, Nichtseiendes, Bewusstsein, Gewesenes, das Nichts), um die Bedeutung «des Seins» zu spezifizieren, hat sich mir nie wirklich erschlossen. Oder sie wird mir zumindest mit jedem Tag fremder; ich erspare allen nun auch ein Rekurrieren auf philosophische Werke dieser Art, denn wer hier Heidegger sagt, muss auch Hegel sagen und immer so weiter. Das Ganze wirkt auf mich jedenfalls in der Regel wie der etwas überambitionierte Versuch, eine intellektuelle Handhabe über die Unvorstellbarkeit der so frustrierend komplexen Wirklichkeit zu erlangen. Was natürlich nicht heißen muss, dass nicht mancher auf diese Weise Erkenntnisse für sich und andere ziehen kann. Nur ich verspreche mir eben ziemlich wenig davon. Meine Erfahrung ist, dass Gespräche, die sich auf allzu abstrakte Ebenen des Philosophierens begeben, dazu tendieren, eine Käseglocke des Intellekts über sich zu stülpen – und vor dem Fenster rauscht die Müllabfuhr vorbei.
Also erst gar nicht über «das Sein» nachdenken? Doch, natürlich. Allerdings aus einem anderen Blickwinkel, nämlich jenem, welcher sich im kurzen, aber prägnanten Wort «hier» der titelgebenden Frage verbirgt. Was heißt hier sein? Dort wird es erst interessant. Denn zwischen den Fragen «Was heißt hier sein?» und «Was heißt sein?» liegt in etwa die gesamte Sprengkraft der Philosophie. Dieses «Hier» ist wie eine Linse, die unseren Blick auf das Jetzt schärfen kann. Es verrät uns, dass «das Sein» nicht als irgendein metaphysischer Äther gedacht werden muss, sondern eher als eine Reihe von Möglichkeiten. Eine so triviale wie befreiende Einsicht. Oder etwas einfacher ausgedrückt: Das «Hier» weckt unsere Aufmerksamkeit für den aktuellen Unterschied meines eigenen Daseins und dem eines anderen Menschen. Durch das «Hier» betrachtet, wird die Frage nach dem «Wesen des Seins» zur Frage nach dem, was sich unmittelbar vor der eigenen Haustür abspielt – und was nicht. Es verleiht dem «Sein» gewissermaßen seine Koordinaten. Denn wer nach dem «Hier» fragt, denkt schon das «Dort» mit.
Eine solche Perspektive kann beispielsweise das Bewusstsein für eine privilegierte Position wecken. In meinem Fall heißt dann «hier sein»: weißer Akademiker, verheiratet, mit ausreichend gefülltem Kühlschrank, mittelständische Eltern (ein Renault Twingo, ein Mini Cooper), usw. Das «hier sein» eines Freundes, der aus seinem Dorf in Darfur nach Libyen floh und über das Mittelmeer, Italien und Frankreich nach Hannover kam, hat absolut nichts mit dem meinen gemein. Nicht, dass das nicht schon immer klar war; also die Tatsache, dass er durch die Sahara ging, während ich nach meiner Schulabschlussfeier besoffen im Bett lag, dass er zweimal von Schleusern an die lybische Polizei verraten wurde oder dass er heute nicht reisen darf, obwohl er gerne seine Mutter in Ägypten besuchen würde, nachdem er erfahren hat, dass sein Vater gestorben ist. Um von all diesen ätzenden und ungerechten Dingen zu wissen, brauchen wir keine Philosophie, dazu genügt ein Blick in die Zeitungen.
Jedoch: Bevor wir diese Dinge mit unserem «Hier» in Relation setzen, bleiben sie in etwa so unscharf wie das nebulöse «Wesen des Seins» selbst; sie bleiben etwas, das irgendwo da draußen ist, weit weg wie die Tagesschau. Das «Hier» kann diese Distanz zerstören; es ist wie ein Vorschlaghammer des Geistes. Denn es markiert eine Differenz und offenbart mögliches Handeln von dieser Differenz aus. Damit verrät es uns auch: Realität ist nicht etwas, in das man sich einfach reinsetzt – und fertig. Sie ist nichts, was wir über uns ergehen lassen, sondern etwas, das wir gestalten, beeinflussen und verändern können. Und der Spielraum für diese Gestaltbarkeit der Realität, des gesellschaftlichen Seins, ist der unendliche Raum zwischen dem «Hier» und dem «Dort».
Aber kaum spreche ich von «Differenzen», «gesellschaftlichem Sein», vom «Hier» und «Dort», klinge ich wie einer, der glaubt, sich dem Sein genähert zu haben … Schon entgleitet auch mir, wenn ich nicht vorsichtig bin, der Teppichboden der Realität unter meinen Füßen. Darunter klappt auf die Falltür ins Nichts.