Hinter manchen Worten lauern Falltüren. Öffnen sie sich, droht der Abgrund des Unbekannten, von dem wir nicht wissen, ob wir uns darin verlieren oder ob wir darauf vertrauen dürfen, auf sicherem Terrain zu landen. Die Fremden ist so ein Wort. Ein tückischer Begriff. Er wiegt uns in der Sicherheit, glauben wir doch zu wissen, wovon wir reden. Aber der Begriff ist hohl. Eine Worthülse, die wir nach Gutdünken mit unseren Weltbildern füllen, um die anderen zu benennen, die nicht so sind wie wir. Doch wer soll das sein? Die Fremden! Ist ihnen doch ein vertrackter Wesenszug eigen, der es nahezu unmöglich macht, über sie etwas zu sagen oder zu schreiben. Hält man sich von ihnen fern, dann bleiben sie die Fremden. Geht man auf sie zu, dann verflüchtigt sich ihre Fremdheit mit jedem Schritt der Annäherung. Was allerdings nicht ausschließt, dass das eigene Befremden bisweilen wächst. Womöglich sogar darüber, dass die Fremden so fremd gar nicht sind.
Vor dreißig Jahren tauschte ich das vertraute Terrain des Akademikers und Theologen gegen eine Existenz als Autor und Fotograf, die mir wie geschaffen schien zur Befriedigung von Reiselust und Weltneugier. Ob bei den Maya im Hochland von Guatemala oder im Tempel der Göttin Kali in Kalkutta, ob unter bibeltreuen Klapperschlangensekten in den Appalachen oder den Tzigani in Transsilvanien – stets begegnete ich Menschen, bei denen die Schnittmenge kultureller Gemeinsamkeiten auf den ersten Blick nicht sonderlich groß war. Fremd war mir das Leben des Schamanen Pedro Chechewak, der jeden Tag den Opferhügel in seinem Dorf Momostenango erklomm, um wohlriechendes Harz zu verbrennen, dessen Rauch Gebete zum Himmel trug, deren Sinn selbst mein versierter Dolmetscher nicht begriff. Auch wenn mir ein indischer Tempelpriester im Detail erklärte, wann und wo die Muttergöttin Kali bösartige Dämonen mit dem Schwert geköpft hatte, so wird mir das Labyrinth der hinduistischen Götterwelt wohl immer fremd bleiben. Wie auch der Gedanke, zur Prüfung meiner Glaubensfestigkeit mit Giftschlangen zu hantieren.
Eine Zeit lang verkörperten für mich die Zigeuner die Fremden schlechthin. Sie schienen mir das anarchische, ungezähmte Andere zu repräsentieren, den Ort einer diffusen, gewiss auch romantisierenden Sehnsucht, die sich allerdings in Anbetracht ihrer Ausgrenzung und Armut verflüchtigte. Wo immer sie in der Geschichte auftauchten, meistens blieben sie die Fremden. Gerüchte eilten ihnen voraus, Furcht vor ihrer Andersartigkeit trat ihnen entgegen und schlug oft um in Hass und Verfolgung. Aber auch umgekehrt waren für die Tzigani alle Nichtzigeuner die Fremden, die sogenannten Gadsche, eine Bezeichnung, die auch Dummkopf oder Feind bedeuten kann. Zwar entsinne ich mich keiner Situation, in der man mir die Tür verschlossen hätte, dennoch blieb ich trotz aller Offenheit und Herzlichkeit nicht selten der Fremde, der die Roma nicht verstand. Nur ist ein Autor in einer privilegierten Lage. Er kann von seinem Nicht-Verstehen erzählen.
«Die Fremden», so heißt auch eine Skulptur, die der Künstler Thomas Schütte erstmals 1992 auf der Documenta 9 installierte. Seit dem Sommer 2015 sind Teile der überlebensgroßen Figuren aus glasierter Keramik wieder in Kassel am Friedrichsplatz zu sehen. Hoch oben auf dem Portikus eines Kaufhauses. Bemerkenswert ist: Nicht ihr Aussehen, ganz gleich ob asiatisch, afrikanisch oder europäisch, lässt die Figuren als «die Fremden» erscheinen, sondern ihr gesenkter Blick und ihre melancholische Verschlossenheit in ihrer fernen Unnahbarkeit.
Die Fremden gleichen einer Leinwand, auf die sich jede Phantasie projizieren lässt. Der bloße Gedanke an sie löst unterschiedlichste Impulse aus. Die einen reagieren neugierig und fasziniert, andere gleichgültig und desinteressiert, wiederum andere abwehrend und feindselig. Je geringer das Selbst- und Weltvertrauen, so scheint es, desto stärker die Furcht.
Dem Furchtsamen sind die Fremden eine Gefahr. Wer sich indes seiner eigenen Kultur und Identität bewusst ist, vermag sich durchaus von anderen abzugrenzen, aber er braucht diese Abgrenzung nicht zur eigenen Selbsterhaltung. Doch nicht nur Furcht und Feindseligkeit machen die Fremden zu Fremden, die sozialromantische Verklärung und wohlfeiler Moralismus ebenfalls. Anstatt den Fremden zu begegnen und ihr Anderssein zu erkunden, haben wir sie unserer Vorstellungswelt angepasst und der semantischen Kontrolle unterworfen. Politisch korrekte Begriffe suggerieren, den Fremden Achtung und Respekt zu erweisen, ohne sich ihnen wirklich annähern zu müssen. So wurden aus Indios Indigenas, aus Eskimos Inuits und aus Ausländern Mitbürger mit Migrationshintergrund. Gegen ihr eigenes Identitätsempfinden werden große Teile europäischer Ethnien, die sich selber Tzigani, Cigány oder Gitanos nennen, kurz Zigeuner, als «Sinti und Roma» tituliert. Doch sind uns die Menschen hinter den Begriffen durch ihre Umbenennung tatsächlich weniger fremd und vertrauter geworden?
Ent-Fremdung erfordert Begegnung. Daher soll die Geschichte mit dem Schamanen Pedro Chechewak nicht unerzählt bleiben. In der Nacht, bevor ich mit dem Maya-Priester den Opferhügel hinaufstieg, war ich gestürzt. Meine rechte Hand schmerzte und schwoll so stark an, dass ich nicht mehr in der Lage war, den Auslöser meiner Kamera zu drücken. Pedro schaute sich die Malaise an, trank ein Fläschchen Schnaps, bespuckte die Hand mit demselben und beschwor mir fremde himmlische Mächte. Zu meinem Erstaunen verflüchtigten sich die Schwellung und die Schmerzen binnen weniger Augenblicke. – Aus Dankbarkeit machte ich den Fehler, den Heiler mit Geld entlohnen zu wollen. Doch er winkte ab: «Behalte deine Dollars. Geld bringt den Menschen kein Glück.» Dann fiel mir das Schweizer Messer in meiner Fototasche ein. Staunend entdeckte der Alte die vielen Funktionen. Dann strahlte er, als stolzer Besitzer eines Taschenmessers, das eine halbe Werkzeugkiste ersetzte. Als wir uns verabschiedeten, gingen zwei beglückte Männer auseinander, die ihre Fremdheit miteinander geteilt hatten.