Am 12. März 2016 jährt sich der Todestag der aus Mähren stammenden Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach, einer geborenen Freiin (ab 1843 Gräfin) Dubský, zum 100. Mal. Beigesetzt ist sie im Mausoleum der Grafen von Dubský in Zdislawitz, heute Zdislavice, Tschechien. Das Schloss verfällt, ihre Bibliothek, viele Bücher ihrer Kollegen mit schönen Widmungen, kam 1945 in die Papiermühle, aber ihre eigenen Bücher leben weiter.
Im Jahre 1916 starb auch Kaiser Franz Joseph I., der Österreich seit 1848 regiert und Serbien 1914 den Krieg erklärt hatte: Der Erste Weltkrieg hatte begonnen und das Kaiserreich Österreich-Ungarn ging zwei Jahre später unter. Wie die Werke Franz Kafkas entspringen auch die Geschichten Marie von Ebner-Eschenbachs einer untergegangenen Welt. Das Mähren, in dem neben dem Tschechischen auch das Deutsche gesprochen wurde, existiert nicht mehr. Die Schriftstellerin sah den Untergang ihrer Welt, der Habsburger-Monarchie voraus. Auf Grenzziehungen folgten Verfolgung und Vertreibung. Einer von Marie von Ebner-Eschenbachs Aphorismen lautet: «Wir sind in Todesangst, dass sich die Nächstenliebe zu weit ausbreiten könnte, und richten Schranken gegen sie auf – die Nationalitäten.» Fast könnte man glauben, die Zeilen stammten aus dem Jahr 2016.
Marie von Dubský kam 1830 auf dem Schloss Zdislawitz in Mähren zur Welt. In diesem Jahr erblickte ebenfalls Erzherzog Franz Joseph, der spätere Kaiser Franz Joseph I., allen aus den Sissi-Filmen ein Begriff, das Licht der Welt. Marie von Ebner-Eschenbachs Leben verlief parallel zum Untergang des Kaiserreichs Österreich-Ungarn, einer Welt, die sie in Erzählungen und Romanen beschrieb und kritisch kommentierte. Wir begegnen exzentrischen Adeligen wie den Freiherren von Gemperlein aus der gleichnamigen Erzählung, die sie aus unmittelbarer Anschauung kannte, aber auch dem armseligen Leben der Landbevölkerung und der kleinen Wiener Beamten wie beispielsweise in Der Vorzugsschüler. Der Bub, Georg Pfanner, wird von seinem ehrgeizigen und geizigen Vater in den Tod getrieben. Die Autorin verliert sich jedoch nicht in regelrechte Elendsschilderungen. Das unterscheidet sie von den Schriftstellern des gleichzeitigen Naturalismus, und ihre Werke werden wie die Theodor Fontanes dem Spätrealismus zugerechnet.
Achtzehnjährig heiratete Marie ihren 15 Jahre älteren Cousin Moritz von Ebner-Eschenbach und zog zu ihm nach Südmähren. Von dort siedelte das Paar nach Wien über. Nach ihrem Prosa-Debüt, dem 1858 anonym erschienenen satirischen Bericht über einen Kuraufenthalt in sechs Briefen Aus Franzensbad, wandte sich Marie von Ebner-Eschenbach in der Nachfolge Grillparzers anderthalb Jahrzehnte lang der Dramatik zu, vermutlich weil Prosa zur damaligen Zeit nicht als salonfähig galt. Die Kritiken waren immer wieder überwiegend vernichtend, was die Autorin später veranlasste, ihre Dramen aus der Gesamtausgabe ihrer Werke auszuschließen. Ihr letztes Stück, Das Waldfräulein, sorgte für einen Skandal. Marie von Ebner-Eschenbach hatte es gewagt, den Adel zu kritisieren. Die Heldin des Dramas ruft: «So seid ihr also, ihr Menschen in der großen Welt? und lächerlich ist euch, der nicht ist wie ihr? Nun, ich will ewig lächerlich sein! Verhöhnt will ich sein und verspottet von euch allen – und anders, bei Gott! ganz anders als ihr. Bewundern will ich, was ihr schmäht, ins Herz schließen, was ihr verstoßt!»
Mit diesen Worten des Waldfräuleins gab Marie von Ebner-Eschenbach die Bühne und den feierlich-gehobenen Ton auf, sie könnten jedoch als Programmerklärung gelten: Ihr Interesse und ihre Sympathien haben die Benachteiligten der Gesellschaft wie die Heldin ihres in der renommierten Cottaschen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart erschienenen ersten Romans Božena, die Geschichte einer Magd, von Walter Killys Literaturlexikon als «erster Dienstmädchenroman deutscher Sprache» bezeichnet.
Gleichzeitig mit der Schriftstellerei erlernte Marie von Ebner-Eschenbach das Uhrmacherhandwerk; Teile ihrer riesigen, wert- vollen Uhrensammlung sind heute im Wiener Uhrenmuseum ausgestellt. Ihre Erfahrungen verwertete sie in dem kleinen zweiten Roman Lotti, die Uhrmacherin, der ihr, sie war inzwischen fünfzig, endlich den Durchbruch bescherte.
In dieser Zeit erschien auch ein erster Band Aphorismen, der Perlen wie diese enthält: «Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde – alle dummen Männer.» – «Wo wäre die Macht der Frauen, wenn die Eitelkeit der Männer nicht wäre.» Auch ihr bekanntestes Gedicht könnte man für einen Aphorismus in Versform halten:
Ein kleines Lied! Wie geht's nur an,
Daß man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und eine ganze Seele.
Immer wieder stehen auch Kinder im Zentrum der Werke der kinderlosen Marie von Ebner-Eschenbach. So lautet ein anderer Aphorismus: «Wer sich seiner eigenen Kindheit nicht mehr deutlich erinnert, ist ein schlechter Erzieher.» Und im Gemeindekind lässt sie den Lehrer Habrecht zu seinem Zögling Pawel beim Abschied sagen: «Meine letzten Worte, lieber Mensch, merk sie dir! präge sie dir in die Seele, ins Hirn. Gib acht: Wir leben in einer vorzugsweise lehrreichen Zeit. Nie ist den Menschen deutlicher gepredigt worden: Seid selbstlos, wenn aus keinem edleren, so doch aus Selbsterhaltungstrieb … In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinem vollen Teller sitzen und sich’s schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, daß der Teller seines Nachbars leer war. Das geht jetzt nicht mehr, außer bei den geistig völlig Blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit verderben – dem Braven aus Rechtsgefühl, dem Feigen aus Angst …Darum sorge dafür, wenn du deinen Teller füllst, daß es in deiner Nachbarschaft so wenig leere als möglich gibt. Begreifst du?»
Aber nicht nur die ländliche Armut, die von den für die Arbeiterklasse kämpfenden Sozialisten der damaligen Zeit häufig übersehen wurde, war Marie von Ebner-Eschenbach ein Anliegen, schon sehr früh trat sie dem 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus bei. Sie verschloss die Augen nicht vor der Wirklichkeit ihrer Zeit – ihre Bücher und Texte können sie uns für unsere Wirklichkeit immer noch öffnen.