Ich wuchs in einem Mehrfamilienhaus auf, das einen großen Hof und einen länglichen Garten besaß. Dieser erstreckte sich so weit vom Haus weg, dass das Licht der Lampen im Hof spätabends, wenn die Sonne bereits untergegangen war, regelrecht verschluckt wurde und der Garten im schwarzen Nichts verschwand. Ich erinnere mich, wie wir Kinder stundenlang in diesem Hof standen, in die Dunkelheit starrten und versuchten, die kleine Holzhütte am anderen Ende des Gartens auszumachen. Ständig glaubten wir, die Silhouetten unbekannter Wesen zwischen den Bäumen und Büschen zu erkennen. Wir hielten sie für die Schatten der Mörder aus dem Fernsehen (oder jedenfalls für irgendeine Gefahr) und trauten uns nicht, in die Dunkelheit aufzubrechen, um herauszufinden, ob sie noch da war, die Hütte, ob sie sich in irgendeiner Weise verändert hatte. Jahrelang wagten wir es nicht, den Garten bei Nacht zu betreten, bis wir eines Abends entschlossen, in «das Fremde» einfach hineinzurennen – was auch immer das und da sein mochte.
Als wir nach diesem panischen Sprint schließlich die Hütte erreichten und sich unsere Augen langsam an die Abwesenheit des Lichtes gewöhnten und wir uns das erste Mal richtig umsahen, wurde mir die ganze Lächerlichkeit unserer Angst schlagartig bewusst. Denn natürlich stand die Hütte noch da und natürlich war dort niemand außer uns. Auch wirkte von hier aus betrachtet die zurückgelegte Strecke bis zum erleuchteten Hof plötzlich unwahrscheinlich kurz. Und in den Fenstern sah man Erwachsene gelangweilt durch die Zimmer ihrer Wohnungen laufen. Es war in diesem Moment, dass ich vielleicht zum ersten Mal verstand, dass «das Fremde», vor dem wir uns die ganze Zeit gefürchtet hatten, nichts Reales war, wie die abgelaufenen Cocktailtomaten im Kühlschrank meiner Eltern oder mein Fahrrad real waren, sondern etwas, das wir erschaffen hatten.
Und natürlich hatten wir das. Die Kategorie des Fremden ist ja nichts Wirkliches, sondern im Grunde nur die Folge eines Ziehens einer sehr abstrakten Differenz, nämlich in fremd und nicht-fremd – ein Gedankenkonstrukt, mit dem wir die Welt zu sortieren versuchen. Das tun wir in ähnlicher Form ständig.
Wir unterscheiden (mal bewusst, mal unbewusst) zwischen drinnen/draußen, neu/alt, aber auch zwischen Arbeit/Freizeit oder Motorrad/Nicht-Motorrad. Manchen Geisteswissenschaftlern gilt dieses permanente Unterscheiden als die grundlegende Art und Weise mit der wir uns die Welt verständlich machen.
Die Frage ist nun jedoch, was geschieht, wenn dieses erkenntnistheoretische Instrument anfängt, unser Denken und Handeln dergestalt zu strukturieren, dass beispielsweise die Unterscheidung «das Fremde/das Nicht-Fremde» eine klare Wertung erfährt, die das eine über das andere stellt; oder aber die Differenz emotional aufgeladen wird, wie im Fall des Gartens, dessen uns fremde Dunkelheit wir zur Gefahr stilisierten.
Was passiert also, wenn bestimmte Differenzen von Teilen einer Gesellschaft als wahrhaftig angesehen und unhinterfragt zum eigenen Wissensbestand hinzugefügt werden? Oder genauer: Was für Konsequenzen hat es, wenn «das Fremde» (was auch immer das sein mag) nur noch in hysterischen Bildern des Untergangs erzählt wird, in unseren Köpfen nur noch als eine apokalyptisch über einer Stadt schwebende schwarze Wolke imaginiert wird?
Ganz einfach: Dann bildet dieser Unterschied die geistige Grundlage für Paranoia. Denn theoretisch schließen sich Differenz und Gleichheit zunächst einmal ja nicht aus; zumindest solange Differenz ein gleichwertiges Nebeneinander von Unterschieden bedeutet. Aber genau das kann das Grausame an einer solchen Differenz sein, dass sie – ehe wir uns versehen – zu gesellschaftlichem Alltagsbeton aushärtet und sehr reale Formen annimmt. Denn mag «das Fremde» selbst eine abstrakte Konstruktion des Geistes sein – die Gedanken und Rhetoriken, die eine Gesellschaft daran kultiviert, sind es nicht. Und gerade der Umstand, dass «das Wesen des Fremden» allenfalls heikel zu umschreiben ist, macht es umso gefährlicher, zu glauben, zu wissen, was damit gemeint ist.
Denn «das Fremde» ist ein großes, ein widersprüchliches Wort. Es umfasst das Banale und das Existenzielle ebenso wie das Schöne, das Aufregende und das Beängstigende. Es stimuliert Neugier, Lächerlichkeit und Angst gleichermaßen. Mir sind beispielsweise ein ganzer Haufen Dinge fremd. Und damit meine ich nicht nur die mauretanische Küche, ein spezielles Interesse für Biathlon oder das Tanzen in größeren Gruppen. Fremd sind mir auch all jene Menschen, die diejenigen, die aus den Trümmern ihrer eigenen Realität nach Europa geflohen sind, in Säcke stecken, an Wände stellen und Galgen erhängen wollen.
Und das ist im Kern vielleicht auch das Problem dieses Textes. Denn einerseits ist es klar, dass man «das Fremde» als all diese extrem unterschiedlichen Dinge gleichermaßen beschreiben kann, andererseits würde man vor dem Hintergrund der um sich greifenden Paranoia gern Partei für eine Auslegung des Wortes ergreifen, die «das Fremde» grundsätzlich willkommen heißt; wie dankbar wäre man für ein solches Axiom!
Doch die Konstruktion des Fremden ist und bleibt widersprüchlich. Und zwar weniger hinsichtlich seiner bloßen Bedeutung als vielmehr in Bezug auf die alltäglichen Überlegungen und Handlungen, die wir daran kultivieren; also die Art und Weise wie wir es unser Denken strukturieren lassen. Denn mehr noch, als es uns erlaubt, über etwas Unbekanntes zu sprechen, richtet die Auseinandersetzung mit etwas, das uns fremd erscheint, zunächst einmal eine Reihe von Fragen an uns und unser Verhältnis zur Wirklichkeit: Fürchten wir uns oder werden wir neugierig? Fragen wir zurück oder brüllen wir es in Grund und Boden?
Doch gleichzeitig kann man nicht erwarten, dass einem ein einzelnes Wort die Betriebsanleitung zu richtigem Handeln liefert. Weder wird es einem einfach zuflüstern, welchen Dingen man sich aufgeschlossen nähern sollte und welchen kritisch, noch einem aufzeigen, wo die Grenzen verlaufen. Allenfalls kann es uns ins Bewusstsein rufen, dass niemand außer uns selbst diese Differenzen eingeführt hat und es gute Gründe dafür gibt, warum man sich regelmäßig daran erinnern sollte.