«Der Mensch muss seine ganze Kraft aus dem Nichts heraus finden.» Das bemerkte Rudolf Steiner am 30. Oktober des Jahres 1920 inmitten der gesellschaftlichen Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg, als keine hergebrachte Ordnung zu halten schien und alle Träume über den schönen Fortschritt der menschlichen Zivilisation geplatzt waren. Der Band, in dem die Bemerkung festgehalten wird, trägt den zukunftsweisenden Titel Die neue Geistigkeit und das Christus-Erlebnis des zwanzigsten Jahrhunderts. Was aber auf der großen Bühne der Geschichte immer wieder zu erleben ist, und während und nach dem Ersten Weltkrieg in einem bis dahin unvorstellbaren Maße, findet sich wieder im Kleinen in jeder menschlichen Biografie. Wir stehen dann vor einem Nichts und wissen nicht weiter.
Zu einer uns gestellten Aufgabe fällt uns nicht die schöpferische Lösung ein. Dem Unternehmen, in dem man arbeitet, ereilt Schlag auf Schlag eine Widrigkeit nach der anderen. Bei einem uns nahestehenden Freund wird eine schwere Krankheit diagnostiziert. Oder der mit uns seit über vierunddreißig Jahren in Liebe verbundene Mensch stirbt. Die Einzelfälle der Ratlosigkeit oder gar Verzweiflung sind so vielfältig wie das Leben. Sie müssen aber nicht immer so dramatisch sein. Es genügt ein lustlos, kraftlos, ideenlos erlebter Tag, um die Frage wachzurufen: Wo, wie finde ich die Ressourcen meiner Seele wieder?
In punkto Einfallslosigkeit hat Rudolf Steiner im Jahr 1909 in einigen deutschen Städten – zunächst für Mitglieder der damaligen Theosophischen Gesellschaft in Karlsruhe am 18. Januar, dann aber öffentlich in Berlin am 11. Februar, und vor allem in Nürnberg am 13. Februar – über einige «Gegenmittel» gesprochen. Genauer und positiv gewendet: Er hat insbesondere in den zwei öffentlichen Vorträgen «drei Zaubermittel» zur praktischen Ausbildung des Denkens dargestellt.*
Das erste Zaubermittel ist, «Interesse für die Gegenstände und Tatsachen des Lebens» zu entwickeln, «in jedem Augenblicke die Dinge als Individualitäten zu nehmen und uns zu sagen, sie haben uns immer etwas zu sagen». Wenn ich beispielsweise beobachte, dass mein Nachbar etwas in seinem Garten oder an seinem Haus macht, was sich mir nicht unmittelbar erschließt, dann kann ich mir Gedanken darüber machen und später überprüfen, inwieweit meine Gedanken zutreffend waren oder nicht. Nur von Selbstlob sollte man absehen, wenn man richtig lag, denn das verdirbt die positive Entwicklung eines den Tatsachen und Vorgängen der Welt angemessenen Denkens.
Das zweite Zaubermittel für die praktische Ausbildung des Denkens ist die Lust und Liebe zu allem, was man tut. Jedes Mal, wenn wir nur gleichgültig, pflichtgemäß oder gar widerwillig etwas tun, vergeben wir eine Chance, uns mit der Welt und ihren Vorgängen zu verbinden. Sind unsere alltäglichen Handgriffe und Betätigungen dagegen «beherrscht» von Lust und Liebe, so vereinigen wir uns mit der Welt – und die Welt bedankt sich bei uns immer wieder mit den für sie richtigen Einfällen.
Das dritte Zaubermittel ist die innere Befriedigung am eigenen Denken, das wir bewusst selbst ausführen in der inneren, nicht von außen bestimmten Reflexion. Wir können etwa fünf Minuten am Tag damit verbringen, über einen einfachen Gegenstand wie einen Bleistift oder eine Schere nachzudenken, ohne dabei abschweifende Gedanken zuzulassen. Oder wir können uns am Ende eines Tages fragen: Was hast du heute erlebt, das wesentlich war, das etwas enthält, das von Dauer ist? Immer wieder habe ich bei mir beschämt feststellen müssen, dass mir das schwerfiel, dass zunächst gar nichts mir als wesentlich, Zeit überdauernd erschien.
Nach diesen Ausführungen zu den drei Zaubermitteln zur praktischen Ausbildung des Denkens weist Rudolf Steiner noch auf die Bedeutung der Nacht hin: wie wichtig es sei, manches Problem, wenn es einmal in Gedanken bewegt worden ist, durch die Nacht zu nehmen. In der Nacht reift das Denken weiter – ja: «Für vieles, was der Mensch verdirbt an seiner Gedankenkraft, wird der Ausgleich geschaffen dadurch, dass der Mensch schläft.» Und dann kommt der überraschendste Hinweis: «Es wird das Denken aber viel wesentlicher gefördert, wenn der Mensch sich entschließt, nicht zu denken, obwohl er wach ist. Die Augenblicke des Nichtdenkens sind die größten erzieherischen Mittel für das Denken.»
Womit wir wieder beim Nichts sind: «Der Mensch muss seine ganze Kraft aus dem Nichts heraus finden.» Aber dieses Nichts muss durch kräftiges Tun erst ermöglicht werden! Das ist der Unterschied. Unser Bewusstsein ist meist mit allerlei unwillkürlichen Gedanken erfüllt oder gar besetzt. Um dahin zu kommen, dass wir uns den Gegenständen und Tatsachen des Lebens ganz ohne Vorurteile hingeben können, bedarf es der selbstbestimmten, geübten eigenen Tätigkeit des Denkens. Aber dann muss das eigene Denken schweigen und leer sein können, um etwas Neues zu empfangen.
Neben dem Vertrauen, das einem geschenkt wird, der Selbsterkenntnis, die wir uns mühsam erringen, dem Atem der Erde, mit dem wir leben, dem Glauben, der Liebe, der Hoffnung, die uns zuteil werden; neben der selbstlosen Hinwendung zum Du, der Leichtigkeit in der Musik eines Debussy, der Freundlichkeit oder der monumentalen bildschaffenden Willenskraft eines Michelangelo; neben dem Trost der Bäume, der Weisheit der Märchen oder der Romane von Charles Dickens – gibt es unzählige Ressourcen der Seele. Sie sind so vielfältig wie die einzelnen Menschen, die sich dem Wunder des Lebens zuwenden.