Die Unesco erklärte 1995 den 23. April zum «Welttag des Buches». Lesen ist nicht mehr selbstverständlich, es braucht Förderung – heute noch mehr als vor über zwanzig Jahren. Unsere laute Welt kann im Lesen einen Gegenpol finden. Die Fähigkeit zu lesen (und zu schreiben), ist ein mühsam erworbenes Kulturgut der Menschheit. Sie hat sich im Lauf der Geschichte durch viele Phasen verbreitet, aber selbst heute haben noch nicht alle Menschen die Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen.
In den frühen Hochkulturen war das Erlernen dieser Fähigkeit nur wenigen Menschen vorbehalten. Sogar Karl der Große war als König noch Analphabet und mühte sich, als Erwachsener lesen und schreiben zu lernen. Vor Erfindung des Buchdrucks gab es nur handgeschriebene Bücher, oft «Heilige Schriften», die öffentlich vorgelesen und gehört wurden. Lange lag die Kontrolle über alles Wissen in den Händen der Herrscher und Priester. Man staune: Goethes Faust stand Anfang des 20. Jahrhunderts noch auf dem Index verbotener Bücher! Durch die Buchdruckerkunst wurde Lesen allmählich zum Allgemeingut, der Anspruch auf die uneingeschränkte Verfügbarkeit von Büchern ist heute fast überall auf der Welt verbreitet. Das ist unsere moderne Wirklichkeit, aber ist dies schon ein wirklicher Fortschritt? Ist durch die quantitative Verbreitung unsere Lesefähigkeit intensiver, unser Schreiben kreativer geworden, gar zu neuer Blüte gelangt?
In der Überfülle von Angeboten treffe ich als Leser die Auswahl und muss dafür andere Optionen «sausen lassen». Ich als Einzelner bin aufgefordert zu suchen und zu finden, was meinen Wahrheitssinn schult, die Sehnsucht nach schöner Sprache stillt, die eigene Fantasie beflügelt und mein Interesse für Welt und Menschen weckt und wachhält.
Mit der Entscheidung für ein Buch ist ein Anfang gemacht. Diese Fähigkeit des Anfangens ist für den griechischen Philosophen Plato eine der schönsten Fähigkeiten des Menschen!
Lesen ist ein vielschichtiger Vorgang, den wir meist nicht reflektieren. Was der Autor an Wissen, Ideen, Selbsterlebtem in die Zeichen «gebannt» hat, wird vom Leser in einem schöpferischen Akt wieder «erlöst». Ist das nicht schön? Nehmen wir uns dafür noch Zeit? Bei diesem Vorgang – und das macht die einzigartige Freiheit des Lesens aus – bin ich selbst Herr und Königin!
Über meine Lese-Zeit führe ich selbst Regie: Ich bestimme den Zeitpunkt, den Ort, das Tempo – halte inne, wo ich möchte, verweile. Ich werde aufmerksam für das, was mich besonders anspricht, vielleicht sogar erschüttert. Ich reflektiere, komme in Zwiesprache mit dem Buch. Das Lesen entwickelt sich zu einem inneren Dialog mit dem Autor.
Lesen kann deshalb in meinem Leben eine hohe Priorität einnehmen. Es kann mir die Erfahrung einer engen Beziehung zwischen Zeit und Lesen schenken, die sowohl quantitativer als auch qualitativer Art ist. Lesen verläuft zwar im äußeren Strom der Zeit, kann mich aber im Glücksfall zum Erleben ihrer Innenseite führen: Plötzlich dehnt sie sich, nimmt mich in sich auf, entrückt mich in Vergangenheit oder Zukunft – ich vergesse die Zeit! Aufmerksames, intensives Lesen hat etwas Verwandtes mit einer echten, tiefen Begegnung, die uns beschenkt.
Lesen kostet Zeit, aber es bereichert uns vielfach. Lesen schenkt Zeit! Dadurch kann es zugleich eine salutogenetische Wirkung auf uns haben, gesundend für den ganzen Menschen wirken. Denn in der Hektik des Lebens in die Welt eines Buches einzutauchen, gibt Abstand, Ruhe, Gelassenheit. So wie Fitness unsere Kraft und Ausdauer fördert, so kann Lesen in unseren Alltagsnotwendigkeiten die Lebensbalance fördern.
Etwa 200 Bücher erscheinen in Deutschland täglich. Das kann niemand mehr überblicken. Wie soll ich da das für mich Wichtige und Richtige finden? Vielleicht kennen auch Sie die folgende Erfahrung: Man übernachtet auswärts bei Freunden oder in einem Gästezimmer. Dort gibt es Bücher. Und während ich stöbere, dies und jenes Buch in die Hand nehme, macht es «klick»: Das nicht (oder doch?) Gesuchte gerät in meinen Blick, findet mich. Was mich gerade in meiner Lebenssituation beschäftigt, findet von außen ein Echo. Ich erlebe dies immer wieder und bin erstaunt. Oft haben mir auch andere davon erzählt.
Halb im Spaß spreche ich manchmal von meinem «Lese-Engel», der mir auf zufällige Weise (auch durch Tipps anderer, Rezensionen, beim Stöbern in einer Buchhandlung) das Richtige zuspielt. So habe ich gelernt, auf das zu achten, was von außen auf mich zukommt und doch «meins ist».
Die Kunst gut zu lesen – nach Nietzsche die «große, die unvergleichliche Kunst»! – muss geübt werden. Die Untersuchung von Lesebiografien hat gezeigt, dass einmal das Lesefeuer in der Kindheit sich entzünden muss und dann hoffentlich für das ganze Leben glühen darf! Dabei ist es offenbar nicht wichtig, ob an Karl May oder Harry Potter, denn auf die Inhalte kommt es zunächst nicht unbedingt an! Jeder echte Leser hat als Kind einmal ein Buch «verschlungen», hat erfahren, dass sich in Büchern Welten öffnen können. Der Schriftsteller Walter Benjamin erinnert sich an solche Lese-Erfahrungen: «Man wohnte, man hauste zwischen den Zeilen.» Die Entwicklung von der «Leseratte» zum guten Leser kommt später!
Der Grundstein dafür kann durch regelmäßiges Vorlesen gelegt werden. Wer erinnert sich nicht an dieses Nähe bildende und Welten bauende Erlebnis in seiner eigenen Kindheit? Bindung und Bildung ereignen sich und wachsen in diesen Zeiten, die von den Kindern häufig über Jahre als ein festes Ritual eingefordert werden. Sie lieben das Vorlesen, weil sie es brauchen.
Die Welt der Bücher hält eine Fülle von Wissen und reichem Lesezauber für uns bereit: vom Sachbuch und Ratgeber über Biografien bis zu Romanen, Lyrik und vielem mehr. Und wegen seiner haptischen Qualität und oft sehr schönen Gestaltung wird das gedruckte Buch als Gegenpol zu elektronischen Medien gerade heute neu geschätzt.
Neulich berichtete eine deutsche Schriftstellerin, die derzeit in Istanbul lebt, dass eine türkische Freundin sich jetzt neuerdings mit anderen in Lesekreisen trifft. Ausgehen sei zu teuer geworden. «Wir lesen! Zurzeit übrigens Bücher über die politische Entwicklung in der Türkei …» Verlage und Bücher hätten Hochkonjunktur. Möge es dort so bleiben – und bei uns so kommen!