Der Sternenhimmel ist ein gewaltiges Bilderbuch, das Nacht für Nacht seine Seiten aufschlägt und dazu einlädt, diese Seiten lesen zu lernen. In drei Schritten tritt dieses große Buch vor die Augen, in drei Schritten entfalten sich dabei die Sternbilder: Schon bald nach Sonnenuntergang sieht man die ersten hellen Sterne. Das ist die Ouvertüre, das Präludium. Wie Leuchtfeuer markieren sie die Orte, wo eine halbe Stunde später dann Sternreihen und -kurven beginnen aufzuleuchten und sich nach und nach zu Großer Wagen und Kleiner Hund, Nördliche und Südliche Krone zusammenfügen. Aus einzelnen Punkten werden Flächen. So wie sich in der irdischen Schrift die einzelnen Buchstaben zu Wörtern zusammenschließen, so gruppieren sich jetzt in der Mitte der Dämmerung die einzelnen Lichter zu Bildern, und wir Beobachtende geben – je nach Kultur verschieden – diesen aus Sternen gezeichneten Bildern Namen. – Dann schreitet die Dämmerung fort – und wenn an die Stelle der Dämmerung die Dunkelheit tritt, zeigt sich die ganze Fülle des Nachthimmels. Waren es im ersten Schritt vielleicht zehn helle Sterne, so sind es im zweiten einige Hundert, und wenn kein Stadtlicht und keine Wolke stören, sind es vielleicht tausend Sterne, die den großen Himmelsdom bilden.
Als vor etwa 5000 Jahren in Sumer und auch in Ägypten mit Keilschrift und Hieroglyphen die Menschheit das Schreiben und Lesen lernte, da war manchmal die Rede davon, dass die Himmelsschrift auf die Erde gefallen sei. Tatsächlich leistet die Schrift etwas, was zuvor den Sternen vorbehalten war – sie ist ewig. Diese Zeilen hier kann man heute, morgen, aber auch in hundert Jahren noch lesen. Da ist die Schrift den Sternen verwandt. Sie besiegt die Zeit – doch diesen Sieg bezahlen wir mit einem Verlust an Gegenwart. Das gesprochene Wort ist im nächsten Augenblick schon verklungen, ist vorbei, aber wie viel an Farbe, Ton, Persönlichkeit, Gebärde und Geste ist in seinem Gepäck! Diese Seelenfülle gibt es in der Schrift nicht. Da sind nur die Buchstaben, und man weiß nicht, von wem, wo und in welcher Stimmung sie geschrieben wurden. Da ist keine Gegenwart. – Wirklich nicht?
Wer eine Lesende oder einen Lesenden beobachtet, sieht es: Da ist jemand in die Schrift versunken, und indem so Wort um Wort, Zeile um Zeile gelesen, also gesammelt werden, wird die tote Schrift von Neuem lebendig, entsteht eine neue Gegenwart der aufgeschriebenen Sprache.
Am Sternenhimmel gibt es diese Gegenwart ebenfalls: So wie in der Schrift das Engagement des Lesers den Buchstaben Leben und Gegenwart schenkt, so sind es am Nachthimmel die Planeten, die das Ewige in ein Jetzt verwandeln. Wer etwa im Frühherbst abends hinaustritt, sieht im Süden zwischen der dynamischen Gestalt des Skorpions und dem ruhigen Rund des Asklepios Saturn stehen. Dem dramatischen Gegensatz von Tod (Skorpion) und neuem Leben (Asklepios) verleiht Saturn eine einmalige Ruhe und Transzendenz. Erst in knapp 30 Jahren (2047) wird er dort wieder stehen – doch es wird nur eine ähnliche Stellung sein, nicht die identische. Was jetzt am Himmel zu sehen ist, ist ebenso einmalig wie der Augenblick, in dem man selbst – hier und jetzt – den Kopf zu diesem Nachthimmel hebt. Die Planeten schenken dem ewigen Sternenhimmel eine Gegenwart, ein Jetzt. Es lohnt sich deshalb, dem besonderen Klang nachzuspüren, der zwischen Tierkreisbild und Planet entsteht, weil es einen in die Gegenwart des Kosmos versetzt.
Wie wird aber aus dem Schauen in den Sternenhimmel ein Lesen? Große Astrologen wie Johannes Kepler oder Seher wie Nostradamus sind hier ihre ganz eigenen Wege gegangen, um in innerer Versenkung und Inspiration etwas von der Sternenschrift fassen zu können. Ihrem Leben und ihren Ratschlägen zu folgen hilft zumindest, ein Gefühl für dieses «Lesen in der Sternenschrift» zu bekommen. Es gibt darüber hinaus einen Weg vom Schauen zum Lesen des Kosmos zu kommen, der weniger spektakulär ist und auch nicht zu irgendwelchen Weissagungen oder Erkenntnissen führt, der aber gleichwohl etwas Wertvolles bereithält, denn er lässt diesen so fremd und unbekannt wirkenden Kosmos wieder zu einer Heimat werden. Es ist der Weg des dreifachen Schriftsinns. Erstmals formuliert hat ihn Origines (185 – 254), der Philosoph und Vater des Christentums. Es handelt sich bei diesem Dreischritt um eine Lehre: Der erste Schritt bedeute, alle Einzelheiten eines Textes oder Bildes oder auch eines Ereignisses möglichst gut aufzunehmen. Für die Sternenwelt heißt dies, die 28 Sternbilder, die jetzt alle im Herbst am abendlichen Nachthimmel zu sehen sind, zu beobachten. Dazu gehört auch, die Gestalt und Position der Bilder – von Andromeda über Delphin und Waage bis zu den Jagdhunden – erkennen zu können und sich ihre Form einzuprägen.
Im zweiten Schritt des Lesens solle man, so der Kirchenlehrer, die Beziehungen der einzelnen Gedanken und Bilder des Textes untersuchen. Dies bedeutet, zwischen den Zeilen zu lesen. Auf die Sternenwelt übertragen heißt das, nun nicht nur die einzelnen Bilder ins Bewusstsein zu nehmen, sondern deren Beziehung zueinander. Ein Beispiel: Der Schütze, den man jetzt tief im Süden findet, besteht aus etwa 12 hellen Sternen, die ein ganzes Feld erhellen. Die Sterne bilden keine klare Form, die man zeichnen könnte, sondern sie erleuchten eine Region, als hätte man eine Handvoll Edelsteine hingestreut. Dem Schützen folgt der Steinbock, der im Gegensatz dazu mit zart leuchtenden Sternen einen schiffsförmigen Innenraum bildet. Beim Schützen ist es die Lichtfülle, die dem Bild seine Kraft verleiht, beim Steinbock die markante Gestalt, die ein Inneres umschließt. Innerlich nun von einem Bild zum anderen zu wechseln und so auf die Beziehung zwischen beiden Bildern aufmerksam zu werden bedeutet, den zweiten Schritt des Lesen zu gehen. Es geht hierbei nicht um die einzelnen Bilder, sondern um die Beziehung, die zwischen ihnen waltet. Geht es in der ersten Stufe darum, die Bilder zu fassen (Imagination), so geht es nun um den Klang zwischen ihnen (Inspiration). Dabei hat man jetzt zwei, drei oder vielleicht vier Bilder gleichzeitig vor Augen. Die dritte und höchste Form des Lesens bedeutet schließlich, alle Sternbilder in ihrem Wechselspiel fassen zu können. Nach so mancher sprichwörtlich «langen Nacht» macht sich mit einem Mal ein Gefühl, ein Verstehen für den ganzen Sternenhimmel bemerkbar. Intuition nennt man diesen dritten Schritt des Lesens. Das klingt schwierig – und doch ist dieser Schritt beim Anblick eines anderen Menschen alltäglich: Man sieht Nase, Mund, Augenstellung, all die einzelnen Bilder und deren Beziehung zueinander, und dann ist im nächsten Moment klar, wie und wer dieser Mensch ist. Was das andere Gesicht so unmittelbar schenkt, das ist bei den Sternen ein längerer Weg. Die alten Römer sagten treffend: Per aspera ad astra – auf rauhen Pfaden zu den Sternen. Doch geht man den Pfad, ist dieses Lesen ein Lebensgeschenk.