Für meinen Vater war «Philosophie» kein akzeptables Studienfach. So eine «Ausbildung» würde ich von ihm nicht finanziert bekommen. Als mich dann eine Klassenkameradin fragte, ob ich mir nicht mit ihr zusammen die Zeichenakademie in Hanau anschauen wolle, wo man Zeichnen, Entwerfen und Gestalten lernen konnte, und zwar in Verbindung mit einer handfesten Ausbildung zum Goldschmied, kam ich nicht nur mit, sondern entschied mich auch spontan dafür. Auf die «Idee», Goldschmied zu werden, bin ich zuvor nie gekommen. Auch die Arbeit mit mental behinderten Kindern im Rahmen des Zivildienstes danach kam ganz ungeplant auf mich zu. Die erste Begegnung mit den Kindern war zwar etwas erschreckend, aber die Froebel-Schule im Schloss Philippsruhe am Hanauer Mainufer schien mir dennoch ein Ort zu sein, der für meine nächsten anderthalb Jahre irgendwie zu passen schien. Und nach kurzer Eingewöhnung sah ich die Kinder, die ich betreuen half, mit ganz anderen Augen und gewann sie lieb. Fast jeden Abend konnte ich meiner Lebensgefährtin Ingrid eine Geschichte erzählen, die ich erlebt hatte – und ich begann, wieder zu lesen. Als ich dann schließlich in einem kleinen Goldschmiedeatelier mitten in Frankfurt ins Berufsleben eintrat, wurde mir das zu eng.
Ich stürzte in eine Krise. So sollte es nicht weitergehen. Aber konnte ich jetzt noch etwas anderes machen? War jetzt noch ein Studium möglich? Mein Vater empörte sich über den bloßen Wunsch. Ich war verzweifelt und stand in einer Sackgasse. Diesmal war es eine andere Schulfreundin, die mir Mut machte. Sie stand vor ihrem Studienabschluss und kannte das Leben an der Universität. Tatsächlich fand ich dann diverse Arbeitsmöglichkeiten neben dem Studium. Mein Vater bezahlte mich für handwerkliche Hilfe beim Hausanbau, die Großmutter gab noch regelmäßig einen kleinen Betrag, an der Volkshochschule konnte ich Kurse geben, und ab und zu reparierte ich ein Schmuckstück oder fertigte ein neues an. An der Universität habe ich dann schließlich als studentische Hilfskraft von Professor Geyer regelmäßig etwas verdient. Als er aus Krankheitsgründen leider vorzeitig emeritiert wurde, bekam ich zum «Ersatz» eine Stelle in der großen religionswissenschaftlichen Fachbereichsbibliothek der Johann Wolfgang Goethe Universität. Ich saß inmitten der Geistesgeschichte, und die Professoren und Studenten der Gegenwart strömten wie ein Atem ein und aus. Ein prägendes Beispiel für geistig-gestalthaften Umgang mit den Werken der Literatur und Philosophie erfuhr ich durch den Philosophen und Literaturwissenschaftler Jörg Villwock.
Das aber, was ich in meiner Lebensgeschichte heute rückblickend «lese», steht zwischen den Zeilen solcher Tatsachen und neben der chronologischen Ordnung. Noch während des Zivildienstes bekam ich beispielsweise Rudolf Steiners Geheimwissenschaft im Umriss geschenkt – mit der Auflage, Ilse, der Erzieherin der Froebel-Schule, von der dieses Geschenk kam, die Sache mit den Wesensgliedern zu erklären. Sie machte nämlich eine berufsbegleitende Ausbildung in anthroposophischer Heilpädagogik, aber der Praktikerin, die mit den schwierigsten Kindern genial umgehen konnte, fiel die Theorie schwer. Ich wiederum hätte freiwillig nur schwerlich ein Buch mit einem dermaßen befremdenden und wenig vertrauenerweckenden Titel aus einem Regal irgendeiner Bibliothek oder Buchhandlung gezogen. Aber ich wollte helfen und war dann vielleicht doch auch etwas neugierig. Und wider Erwarten waren die Beziehungen zwischen den Naturreichen und den sogenannten «Wesensgliedern» dann interessant und nachvollziehbar. Ich ging wieder zu anderen Autoren über und übte das Ziselieren mit Gedanken. Aber ein Keim war in den Boden versenkt, der später aufgehen würde.
Eigenartig verschränkt waren auch Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in der Begegnung mit Andreas M., einem potenziellen Nachfolger meiner Zivildienststelle, und dem Kennenlernen meiner späteren Frau. Mit ihm und seinem Freundeskreis sah ich im Theater
Der Schatten von Jewgeni Schwarz. Hinterher, im Künstlerkeller, saß ich dann erstmals Ruth gegenüber, der Frau, ohne die ich mir heute mein Leben nicht mehr vorstellen kann. Sie war es dann auch, die vor allem darauf drängte, doch nach neuen Berufsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Waldorflehrer schien da eine Möglichkeit zu sein, und damit verknüpft gab es ja noch diese etwas merkwürdige Anthroposophie, die mir vor Jahren einmal durch Ilses «Nachhilfewunsch» begegnet war. Wieder kam es anders, als ich es mir hätte ausdenken können: Ich wurde zum Bibliothekar der Stuttgarter Rudolf Steiner-Bibliothek und tauchte exakt zu meinem zweiten Mondknoten (also im 37. Lebensjahr) in einer ganz neuen Welt auf, in der ich mich zusammen mit meiner Frau beheimatete.
Nach der Veröffentlichung meines Buches über Die Entdeckung der Bewusstseinsseele wurde ich zu verschiedenen Vorträgen eingeladen. Aus einer dieser Einladungen wurde dann eine intensive Zusammenarbeit, in der sich nochmals die Zeitverschränkung zeigt: Stefan Weber von der heilpädagogischen Einrichtung Hohenfried hatte begonnen, das Verständnis der Betreuten durch den Blick auf deren Biografien zu erweitern, woraus ein gemeinsames Projekt wurde, in das meine frühen heilpädagogischen Erfahrungen einfließen konnten.
Was ich heute in meiner Lebensgeschichte «lese», entstand weder als Abfolge von unvorhersehbaren und zufälligen Handlungsschritten noch durch bloße Ursache-Wirkung-Beziehungen oder als Verwirklichung eines zuvor entworfenen Planes. Was ich «lese», ist eine Geschichte. Geschichten können literarisch sein oder real. Weder die einen noch die anderen sind vergangen. Wir leben jeweils in unserer Geschichte, die sich aus der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt und uns über die bloße Gegenwart erhebt. Der Philosoph Alasdair MacLntyre behauptet in seinem Buch Der Verlust der Tugend: «Weil wir alle in unserem Leben Erzählungen ausleben und unser Leben mithilfe der Erzählungen, die wir ausleben, verstehen, eignet sich die Form der Erzählung dazu, die Handlungen anderer zu verstehen. Geschichten werden gelebt, bevor sie erzählt werden, außer in Romanen.»
Geschichten lassen sich weder erklären noch sinnlich anschauen. Sie werden «geschrieben», und sie werden erzählt. Es waren viele Menschen, die an meiner Geschichte geschrieben haben, und ich bin selbst einer von ihnen. In der Sphäre der Autorschaft sind wir uns nahe, als «Helden» des Lebens handeln wir mit- und gegeneinander, als Erzähler verbinden wir uns im Verstehen.