«Adalbert Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet.» Thomas Manns pointierte Einschätzung braucht keineswegs weitere Urteile, denn ohnehin zählen nur individuelle Leseerlebnisse und Empfindungen. Zahllose Biographien, Traktate und Aufsätze aller Art bilden bis heute einen unüberschaubaren Fundus – dokumentiert im Adalbert Stifter Institut Linz (www.adalbertstifter.at) – zu Leben und Werk dieses Solitärs deutschsprachiger Literatur.
Stifters Lebenslauf lässt sich in drei 21-Jahresrhythmen betrachten. Geboren wurde Albert am 23. Oktober 1805 in Oberplan, heute Horni Plana, nahe der Moldau, inmitten des großen böhmischen Waldgebirges, der Šumava. Der frühe Tod des Vaters, Leinweber von Beruf, verlangt vom ältesten der fünf Geschwister tatkräftige Unterstützung der Familie. Trotz Hürden findet der Junge Aufnahme im Gymnasium des Stifts Kremsmünster. Ein zarter, rot durchwirkter biographischer Faden nimmt hier seinen Anfang: Albert lernt zeichnen und alte und neue Dichter kennen. Vor allem aber verankern die benediktinischen Väter in seiner Seele die Liebe zur Kunst, damit sie daran wachse.
Wien, die königlich-kaiserliche Metropole, wird zum Schicksalsort von Stifters zweiter Lebensphase. Der böhmische Dorfbub und Klostergymnasiast gibt sich universitären Studien, insbesondere des Rechts, hin, versäumt aber einen ordentlichen Abschluss. Damit ist die angestrebte akademische Berufseinmündung nicht mehr möglich. Weil auch noch die Liebe zur «Braut meines Herzens», Fanny, aus dem heimischen Friedberg, unerfüllt bleibt, gerät der junge Mann gehörig aus dem Tritt. Er schlägt sich als Privatlehrer und passabler Landschaftsmaler durchs Leben. Um weiteren Halt zu finden, heiratet er die kaum gebildete Amalie Mohaupt. Dann aber – wegweisende Fügung des Schicksals – wird er, der dem Drang des Schreibens mit seinen Vorbildern Goethe und Jean Paul bislang nur heimlich frönte, von einer adeligen Dame als Dichter entdeckt. Im Alter von 35 Jahren gelingt ihm der Durchbruch zum Schriftsteller. Es erscheinen u.a. die bekannten Novellen Hochwald, Abdias, Hagestolz und Der Waldgänger.
Einflussreiche Förderer verschaffen ihm das Amt des Schulrats für die Volksschulen in Oberösterreich samt der Nebenaufgabe eines Landeskonservators. So wird das beschauliche Linz zum Mittelpunkt von Stifters dritter Lebensphase. Der Dichter in ihm – inzwischen zu Adalbert avanciert – muss sich jetzt mit den fordernden Aufgaben des Brotberufs arrangieren. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, entstehen in diesem kräftezehrenden Spagat seine bekanntesten Erzählungen, Bunte Steine, mit den Novellen Bergkristall und Kalkstein sowie weitere Fassungen der sogenannten Mappe. Vor allem aber bringt er seine Hauptwerke Der Nachsommer und Witiko zur Welt.
Stifter tat sich schwer mit dem revolutionären Geist jener Zeit – samt der literarischen Strömung des neuen Realismus. Als Pädagoge schwört er ohnehin auf die Macht der Bildung. Seine künstlerischen Intentionen publiziert er in der Vorrede zu Bunte Steine. Der berühmte Kernsatz des darin enthaltenen «sanften Gesetzes» geht so: «Es ist das Gesetz …, das will, dass jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehen, dass er seine höhere menschliche Laufbahn gehen kann, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, dass er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle anderen Menschen ist.»
Für ihn steht das Ewig-Menschliche, das Zeitlos-Bleibende, im Vordergrund. Groß ist das Kleine, die gewöhnlichen, alltäglichen, in der Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, das Beständige in der ständigen Veränderung. Stifter ist keineswegs nur der harmlose und langweilige Idylliker, denn gefahrvolle Naturereignisse und – meist nur sparsam angedeutet – unterschwellig wirkende menschlichen Verfehlungen und Schuld stehen im Zentrum seiner Erzählungen.
Stifters Figuren kultivieren und humanisieren ihren sozialen Umkreis, setzen sich aber auch aktiv mit ihrer eigenen inneren Entwicklung auseinander. Sie üben das, was man einst mit «Selbsterziehung» meinte. Weil sie vertraut sind mit der Gebrechlichkeit von Mensch und Welt und vom Gold des Schweigens wissen, liegt über all dem eine stille, heitere Melancholie. Denn wer lernt, das Gewordene, das Schicksal, über das Erhoffte und Ersehnte zu schätzen, dem gelingt die Kunst des Lebens.
Meisterhaft führt uns der Dichter das im Nachsommer vor. An seinen Verleger schreibt er: «Ich habe ein tieferes und reicheres Leben, als es gewöhnlich vorkommt, in dem Werke zeichnen wollen.» Das Schweigen, mit dem man zunächst über dieses Buch hinwegging, hat ihn tief getroffen.
Wendepunkte, Krisen und Lebensbelastungen durchziehen Stifters Biographie: Der frühe Tod des Vaters, das unabgeschlossene Studium, das schmerzliche Nein von Fanny, immer wieder selbst verschuldete Geldnöte, die persönlichen Angriffe auf ihn und sein Werk, die Ehe mit einer Frau, die ihm kein Gegenüber ist, die Kinderlosigkeit und schließlich der Suizid der Ziehtochter, eine herbe Niederlage für den Pädagogen in ihm. Die Doppellast von Amt und Berufung tut ihr Übriges. All die äußeren und inneren Nöte hat er mit einem Übermaß beim Essen und Trinken, dem Kauf von kostbaren Antiquitäten und mit einem ungeheuren, nicht zu stillenden Schreibdrang versucht zu bewältigen. In den letzten Lebensjahren spitzte sich das in einem «Nervenleiden» – Leberzirrhose und Depressionen – zu. Dennoch hat er wie ein «Pflugstier» an dem monumentalen historischen Roman Witiko gearbeitet.
Was ihm selbst nicht gelingen wollte und schließlich verzweifelt Hand an sich legen ließ – er stirbt am 28. Januar 1868 –, gelang ihm in der Dichtung. Darin spiegelt sich wesentlich mehr als nur eine Mischung aus Charaktereigenschaften, privatem Missgeschick, Wunschdenken, gesellschaftlichen Umständen und literarischer Begabung. In ihr scheinen Dinge durch, die man gefühlsmäßig etwas geistig Höherem zuordnen kann. Es ist das, was zum Geheimnis seiner Individualität und vielleicht auch zum rot durchwirkten Faden seiner Biographie gehört.
In wundersam menschenfreundlichem Ton erzählt Adalbert Stifter seine Geschichten. Sie können uns Stärkung, Ruhe und Zuversicht vermitteln. Ist es nicht das, dessen wir in dieser gefährdeten Welt bedürfen?