Als unsere Tochter Olivia vier Jahre alt war, beschäftigte sie das Wunder ihrer Existenz sehr, und sie stellte mir philosophische Fragen: «Wo waren wir, bevor wir geboren wurden?» Und: «Warum sind wir eigentlich genau der Mensch, der wir sind?» Einmal saß sie wieder lange und träumend auf der Toilette, schaute dann aufmerksam um sich und fragte: «Mama, warum sind wir gerade HIER auf der Erde und nicht irgendwo anders?» Was für eine gute Frage.
Viel zu selten wundere ich mich, warum ich das unendliche Glück habe, zu dieser Zeit und an diesem Ort leben zu dürfen. Andere Eltern müssen mit ihren Kindern in Ländern leben, in denen Krieg und Hunger herrschen.
Tatsächlich habe ich mir die Warum-ich-Frage zum ersten Mal in voller Eindringlichkeit vor zehn Jahren gestellt. Es war nicht Glück, sondern unsägliche Trauer, Hilflosigkeit und Wut, die mich zu der Warum-Frage bewegten. Unser Sohn Willi wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Wir konnten das nach einem ersten Schock gut annehmen – seine Haut war so zart, sein kleiner Körper auf unserer Brust das schönste Gefühl der Welt, und immer, wenn er nieste, machte er ein kleines süßes Geräusch, das für uns das Schönste war, was wir jemals gehört hatten. Ich erinnere mich, wie mein Mann und ich auf Willi blickten und wir uns ganz sicher waren, dass alles gut werden würde, wenn uns dieses kleine Geräusch unseres Kindes so glücklich machen konnte!
Aber dann erfuhren wir, dass er gelähmte Stimmbänder hatte, und man musste unserem Baby einen Luftröhrenschnitt machen – es atmete von da an durch ein Loch im Hals und war stumm. Und als wir nach schweren Monaten auch damit zu leben lernten, bekam unser Willi eine Epilepsie, die das Lächeln aus seinem Gesicht löschte und das Greifen seiner Händchen und seinen Blick in unsere Augen in ein schwarzes Loch verschwinden ließ.
Es war, als würde man mir das Herz aus dem Leibe reißen! Warum musste unserem Kind all das zustoßen? Warum war uns nicht einmal das Glück vergönnt, uns an einem kleinen Geräusch unseres Babys zu erfreuen? Wie konnte es sein, dass uns sein Lächeln entrissen wurde, das uns doch in der schlimmsten Not die Kraft gegeben hatte weiterzuleben? Wann immer ich erwachte, war es, als würde ein Albtraum beginnen – und ich wollte nur noch schreien vor Schmerz und Angst.
Ich habe bis heute keine Antworten auf die Frage nach dem Warum. Warum gerade unser Kind? Und ich halte die Frage auch für sinnlos. Sie hat mich immer nur Kraft gekostet und nie weitergebracht.
Manche Leute meinen, dass das Schicksal uns Aufgaben gibt, aus denen wir als «besserer Mensch» hervorgehen können.
Persönlich wehre ich mich aber gegen den Gedanken, dass eine höhere Macht mein Kind so leiden ließ, um mich reifen zu lassen. Trotzdem möchte ich nicht wieder der Mensch sein, der ich vor Willis Geburt war.
Ich hatte Freunde, die davon ausgingen, ich müsse sehr unzufrieden sein, weil mein behindertes Kind mich im sozialen Leben und bei der Arbeit stark einschränkt. Sie nahmen es mir förmlich übel, dass ich mich damit abfinden kann – wohl, weil sie sich nicht damit abfinden konnten, dass ich für sie keine Zeit mehr habe.
Willi machte einen klaren Schnitt zwischen mein altes und mein neues Leben. Ich nenne die beiden Abschnitte auch so: «vor-Willi» und «jetzt.»
Viele Menschen aus der Vor-Willi-Zeit haben unser Leben abrupt oder schleichend verlassen. Andere Freundschaften haben Bestand, auch ohne Urlaubskarten und Weihnachtsgeschenke. Neue Freundschaften sind dazugekommen, einige mit Familien, die vergleichbare Erfahrungen gemacht haben wie wir. Und es gibt Menschen, die ich schon lange «vor-Willi» kannte, aber wirklich erst durch ihn kennengelernt habe. Ich ahnte ihre Tiefe nicht, nicht ihre besonderen Geschichten, und ich hätte sie ohne Willi nie erfahren.
In unserer schweren Anfangszeit fühlte ich mich der Welt nicht zugehörig. Es war für mich sehr schwierig, mich unter Menschen zu begeben. Es schien mir unvorstellbar, dass mein Kind so schwer krank war und die Welt sich weiterdrehte, als sei nichts geschehen. Ich wäre am liebsten auf der Straße mit einem Schild umhergelaufen, auf dem stand: «Mein Baby hatte heute 50 epileptische Anfälle und wird niemals gehen, sprechen oder uns wieder anlächeln können, wenn das nicht endlich aufhört. Ich habe solche Angst.»
Heute weiß ich, dass ich damals gar nicht alleine war. Um mich herum waren Menschen, die meinen Schmerz kannten. Menschen, die selbst schwer krank sind oder waren. Menschen, die ihre Eltern, Geschwister oder ihr Kind verloren haben. Menschen, deren Heimat zerstört ist, und Menschen, die mit Depressionen leben und nicht mal einen äußeren Anlass für ihre Trauer vorweisen können. Und Menschen, die die Gabe haben, mit anderen mitzufühlen, einfach so.
Willi ist in der Lage, mir einen Blick aus den Herzen dieser Menschen zu schenken. – Und Willi berührt andere Menschen, auch im wörtlichen Sinn. Ich habe eine Freundin, die seit vielen Jahren allein lebt. Sie erzählte mir, dass Zeit mit Willi für sie ganz besonders sei, denn sie werde so selten von anderen Menschen berührt. Und dann wird mir klar, wie viel Menschlichkeit so ein Kind in die Welt bringt, an dem doch so vieles medizinisch gesehen gar nicht «richtig» funktioniert. Willi, ein Mensch mit den genetischen Eigenschaften, die auf der Liste der «auszusortierenden Menschen» steht: Er soll falsch sein, so wie er ist? Er, der uns beibringt, was bedingungslose Liebe bedeutet, der Menschen zueinander bringt in einer Gesellschaft, die doch Liebe und Nähe so dringend benötigt, um gesund und glücklich zu bleiben oder zu werden?
Neulich hat Willis kleine Schwester Olivia mir die Frage gestellt: «Warum ist mein Bruder behindert?» Eigentlich halte ich es für einen bloßen Zufall – aber vielleicht ist der Grund doch, weil wir ihn lieben, so wie er ist, auch wenn er noch so anstrengend sein kann.
Ich würde nicht zurückgehen wollen, in meine Vor-Willi-Zeit. Und um keinen Preis möchte ich in einer Ohne-Willi-Zeit leben müssen, in der man sich dafür entschieden hat, behindertes Leben vorgeburtlich zu vernichten. Auf die grauenhafte Idee, dass man auf behinderte Menschen verzichten könnte – oder wir auf Willi –, ist Olivia aber nie gekommen. Einmal habe ich nach einem So-etwas-muss-doch-heute-nicht-mehr-sein-Vorfall vorsichtig versucht, Olivia zu erklären, dass manche Menschen meinen, man solle behinderte Babys im Mutterleib töten. Auf Olivias fassungslose Frage, warum das jemand tun sollte, konnte ich ihr auch nicht antworten. – Und warum gerade ich so viel Glück habe, genau hier und jetzt leben zu dürfen mit genau meiner wunderbaren
Familie? Ich weiß es ebenfalls nicht, aber ich bin dafür sehr dankbar!