Der Seitenumfang aller Goethebiografien übertrifft inzwischen den seines eigenen Werks. Die Biografen wussten Goethes Leben in Jahrsiebte einzuteilen. Sie erschlossen die Zusammenhänge zwischen seinen Frauen und seinen Romanen. Seine lebensbedrohlichen Krankheiten erkannten sie als wichtige Schritte auf dem Weg zum Parnass, kurz: Bei den Nachgeborenen hat Goethes Biografie eine Schlüssigkeit wie die Logik eines harmonisch mäandernden Flusslaufs abgelaufen.
Goethe selbst musste ohne die Evidenz solcher Sinnhaftigkeit auskommen. Bei seinen mitunter handfesten Problemen fehlten die Biografen, die Licht ins Dunkel gebracht hätten. Mal fühlte sich sein Tun wie eine Sackgasse an, mal wie ein Holzweg. «Manchmal sieht unser Schicksal aus wie ein Fruchtbaum im Winter. Wer sollte bei dem traurigen Ansehen desselben wohl denken, dass diese starren Äste, diese zackigen Zweige im nächsten Frühjahr wieder grünen?» Fragen wie diese aus Wilhelm Meisters Wanderjahren mag Goethe auch auf sein eigenes Leben bezogen haben.
Anfang der 1790er Jahre muss Goethes Leben düster gewesen sein. 1788 aus Italien zurückgekehrt, ist ihm Weimar fremd. Die Hofgesellschaft behandelt ihn unfreundlich. Sie verurteilt seine neue Verbindung mit Christiane Vulpius als nicht standesgemäß. Die Hofdamen setzen den Herzog unter Druck. Er, an sich doch Goethes Freund, muss seinen Liebling aus dem Haus am Frauenplan hinauskomplimentieren. Goethe und seine Lebensgefährtin haben mit einer Jägerwohnung am Stadtrand Vorlieb zu nehmen. Diesen Vorgang erlebt der Dichter als Degradierung. Er ist zutiefst gekränkt.
Auch anderes läuft nicht so wie geplant. Der in Italien gefasste Entschluss, ganz für Kunst und Wissenschaft zu leben, stößt auf Hindernisse. Harte, schneereiche Winter machen zusätzlich einsam. Und damit nicht genug. Vor der Tür herrscht ein Krieg. Seit dem Sturm auf die Bastille in Paris 1789 tobt er über Europa hinweg und macht den Menschen Angst. Auch Goethe. Er zieht sich zurück. In Briefen gibt er seinem damaligen Lebensgefühl Ausdruck. Zwar schenkt ihm Christiane bald das erste Kind. Doch die Familie ist isoliert. In mancher Hinsicht ist das junge Glück eher Belastung als Freude. Goethes Leben steckt für einige Jahre fest.
Da meldet sich Friedrich Schiller mit der Anregung, Goethe möge Beiträge für die neu gegründeten Horen schreiben. Es winkt ein gutes Honorar. Schillers Projekt ist ambitioniert. Er will mit seiner Zeitschrift eine Bildungsrevolution auslösen. Goethe sagt sofort zu. Ausgerechnet Schiller, dem er bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich aus dem Weg zu gehen verstanden hat, entreißt ihn der Krise. In kurzer Zeit verfasst Goethe eine Rahmenhandlung, sechs Novellen und ein Märchen. Wie in seinem wirklichen Leben bestimmt auch in diesen Erzählungen der Krieg das Geschehen.
Novellen sind in Deutschland neu. Goethe hat diese Kunst aus Italien mitgebracht. Boccaccio (1313–1375) ist sein großes Vorbild. In Die Falkennovelle, einer der prägnantesten Novellen seiner Sammlung Decamerone heißt es: «Federigo degli Alberighi liebt, ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all seine Habe und behält nur noch seinen letzten Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame einmal zufällig sein Haus betritt und er sonst nichts mehr hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erfährt, was er getan, ändert plötzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn über sie und ihr Vermögen macht.»
In Novellen geht es um schicksalshafte Wendungen im Leben einzelner Personen. Die Handlung ordnet sich um einen Konflikt; im Fall von Federigo ist es die ausgeschlagene Liebe seiner Auserwählten. Der Konflikt wird so lange angeheizt, bis er den Höhepunkt erreicht. Dort angelangt, erfährt die Handlung eine Wende. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder beteiligen sich die Betroffenen an der Deeskalation des Geschehens und stiften Frieden – oder der Konflikt eskaliert weiter und stürzt alle in den Abgrund. Wer stur auf seiner Meinung beharrt, bringt es fertig, sich und die Welt zugrunde zu richten. Wie schnell dies geschehen kann, hat Heinrich von Kleist in seiner Novelle Michael Kohlhass gezeigt.
Was Goethe nun in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erzählt, ist brandaktuell: Krieg, Vertreibung und Flucht; zerstörte Lebensorte, fanatisierte Menschen und Aggressionen – Ideologisierung, Angst und isolierte Standpunkte. Es ist, als hätte der Dichter unsere Zeit beschrieben. Trotz des Ernsts der Lage hat er vor allem die Absicht zu unterhalten. Die Novellen sind voller Spuk und Erotik. Frau von Stein hat sich darüber geärgert. Das sei unter seinem Niveau, fand sie. Doch er hat zudem eine Vision, die über die pure Unterhaltung hinausgeht. Sie lautet «Gesellige Bildung». Das ist mehr – nämlich Umbildung der Gesellschaft zu mehr Menschlichkeit. Diese Vision ist auch das Programm der Horen.
Es mag erstaunen, dass Goethes Unterhaltungen bisher nicht im Gesamtzusammenhang erfasst wurden. Über das abschließende Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie gibt es Bücher und Dissertationen.
Die Novellen wurden von Germanisten erschlossen, doch meist nur einzeln. Die Rahmenhandlung ist weitgehend unberücksichtigt geblieben. Die Sicht auf das die einzelnen Teile verbindende Ganze fehlt bis heute.
Mir hat es Freude bereitet, zu diesem Ganzen eine Spurensuche einzuleiten. Es gibt tatsächlich einen roten Faden. Er entspinnt sich nicht erst im Märchen, sondern von Anfang an. Die Spur geht sogar über die Unterhaltungen hinaus. Sie umfasst auch das persönliche Ringen, in das Goethe damals verstrickt war.
Sein eigenes und das Ringen seiner Figuren bezeichnet er mit einem Wort, das er im Spätwerk weiter entfalten wird: «Entsagung». Dieses Wort wird immer entschiedener auch ein Schlüssel für Biografien unserer Gegenwart. Wir können die Dinge drehen und wenden, wie wir wollen, die Frage der Entsagung wird immer eindeutiger zur Gretchenfrage, die sich jede und jeder stellen muss. – Im Vergleich zum Faust, dem Wilhelm Meister und den anderen großen Werken seien die Unterhaltungen ein Nebenwerk, haben Kenner behauptet. So zu reden ähnelt der Behauptung, Mozarts Serenaden oder Schuberts Impromptus seien Nebenwerke im Vergleich zu ihren Symphonien. Es «lohnt» sich, auf die Fingerzeige des Genies zu achten, auch und gerade bei einem so reizvollen und tiefgründigen Werk wie den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.