Stille. Kein Laut dringt in die tonlose Welt. Und dauerndes Dunkel – ohne Lichtschimmer, ohne eine Farbe, eine Gestalt, ein Lächeln. In diesem Zustand lebt das Mädchen, das am 27. Juni 1880 in Tuscumbia, Alabama, geboren wurde, seit seinem zweiten Lebensjahr. Mit 19 Monaten erkrankt Helen Keller, bis dahin ein gesundes Kind, an Meningitis und wird blind, taub und stumm. Ihre Entwicklung stagniert. Nur durch Tasteindrücke kommt sie noch mit den Menschen in Berührung.
Aber wie können ihre Eltern und Verwandten ohne Sprache, ohne Gesten überhaupt zu ihr vordringen, mit ihr kommunizieren, ihr etwas beibringen? Und wie soll sich ein Kind ohne Gehör und Sehsinn ausdrücken, Dinge und Gefühle benennen, Vorstellungen entwickeln und denken lernen? Das alles ist nicht möglich. Helen befindet sich jahrelang in einem dumpfen Kerker, einer nebulösen, wortlosen Welt, aus der sie kaum mit der Außenwelt in Kontakt treten kann. Später schreibt sie, sie habe als «Phantom in einer Nicht-Welt» gelebt.
Das Jahr 1887 bringt die Wende. Und es sind gleich zwei Wendepunkte, die ihr Leben komplett verändern. Am 3. März trifft die zwanzigjährige Anne Sullivan, Absolventin einer Blindenschule – sie war selbst nahezu blind gewesen und konnte erst mit 15 nach mehreren Augenoperationen leidlich sehen – als Privatlehrerin für Helen in Tuscumbia ein. Sie soll versuchen, was bislang fast nie gelungen ist: einem taubblinden Menschen Verständigungsmöglichkeiten zu geben. Helen Keller hat das Ankunftsdatum immer dankbar als «Geburtstag meiner Seele» bezeichnet.
Bereits einen Monat später ereignet sich am Pumpenhäuschen des Anwesens der zweite Wendepunkt ihres Lebens: Sie begreift, dass jedes Ding einen Namen hat. Mit dem Fingeralphabet (hierbei wird jeder Buchstabe in Form eines Zeichens in die Handfläche der blinden Person gemalt) versucht Anne von Anfang an einen Zugang zu ihrer kleinen Schülerin zu gewinnen; sie gibt ihr vertraute Gegenstände und zeichnet die entsprechenden Buchstaben in ihre Hand. Und tatsächlich geschieht am 5. April das Wunder: Als Anne ihr kaltes Wasser über die Hand pumpt und zugleich dauernd w-a-t-e-r buchstabiert, wird Helen blitzartig klar, dass beides unmittelbar zusammengehört; was ihr in die Hand geschrieben wird, bezeichnet genau dieses erfrischende, rinnende Etwas. Alles lässt sich benennen! Das, so dämmert ihr, ist der Schlüssel zur Welt.
Wenig später verlassen zwei glückliche Menschen, die sich gegenseitig «Helen» und «Teacher» nennen, das Pumpenhäuschen. Mit unerschöpflichem Worthunger verlangt das Mädchen in der Folgezeit nach immer neuen Namen; die unzähligen Berührungen auf ihrem Handteller verwandeln sich in magische Symbole, die ihr das Leben erschließen.
Möglich ist das nur durch Annes erfindungsreichen, unkonventionellen Unterricht, der die geniale Pädagogin in ihr verrät. Pausenlos ist sie für das Kind da, macht es in jeder erdenklichen Situation und mithilfe aller erfahrbaren Sinneseindrücke des Tastens, Riechens, Schmeckens und der Bewegung mit den vielfältigen Aspekten des Lebens vertraut. Auch die Gefühlswelt – die eigene und die der Mitmenschen – muss Helen teilweise erst verständlich gemacht werden, indem sie etwa lernt, wie sich Freude und Lachen unter anderem in ausgelassenen Bewegungen ausdrücken. Unendlich schwer ist ein solches Unterrichten; was es heißt, unter diesen Bedingungen von Substantiven zu Adjektiven, zu Verben, Fragewörtern, Abstrakta, dann zu ganzen Sätzen und zusammenhängenden Gedanken überzugehen, lässt sich nur erahnen.
Doch das Ereignis am Pumpenhäuschen ist der Ausgangspunkt einer unglaublichen Erfolgsgeschichte und eines beispiellosen Bildungswegs: Helen lernt lesen und schreiben, verfasst Briefe, besucht die Blindenschule, vertieft sich in englische Dichtung, schreibt ihre Autobiographie, studiert Sprachen und Literatur an einem normalen College und macht als erster taubblinder Mensch ihren Hochschulabschluss. Immer an ihrer Seite: Anne Sullivan, selbstlos und geduldig, um ihr die Wissensfülle zu vermitteln und ihr alle nicht in Brailleschrift gedruckten Bücher per Fingeralphabet vorzulesen.
Mehr und mehr wird Helen auch öffentlich aktiv. Sie engagiert sich für die Belange der Blinden, macht Vortragsreisen, tritt der Sozialistischen Partei bei, sie kämpft für die Rechte von Frauen, Arbeitern und Afroamerikanern und stellt sich gegen den Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg. Längst ist sie eine berühmte Persönlichkeit, steht mit Größen aus Kultur und Politik in Verbindung. Dann dehnt sie ihre Aktivitäten noch weiter aus und kümmert sich auch auf Überseereisen, die sie in viele Länder der Erde führen, um die Verbesserung der Lebenssituation von Blinden und Gehörlosen. Gegen Ende des 2. Weltkriegs und danach besucht sie Lazarette und gibt den verwundeten oder erblindeten Soldaten neue Perspektiven.
Wie ein roter Faden zieht sich ein Lebensmotiv durch ihre Biographie: die beharrliche Eroberung ihrer Umgebung in immer weiteren Kreisen, vom nahen Umfeld bis zum Besuch ferner Kontinente.
Obwohl Helen das Außen nicht sieht und nicht hört, tritt sie unerschrocken aus der Isolation heraus und sucht die intensive Beziehung zu ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen. So kommen vielfältige und weitreichende Begegnungen zustande, kulturübergreifend. Vom Phantom zur Welt- bürgerin – was für ein großer Bogen!
Auf dieser Grundlage findet sie auch ihre Lebensaufgabe: den unermüdlichen Einsatz für Blinde in aller Welt, für Benachteiligte und Menschen in Not.
Und ein weiteres Motiv fällt auf: Ist sie zunächst ganz im dunklen inneren Kerker gefangen, in den kaum Sinneseindrücke gelangen und der nur ein vages Bewusstsein zulässt, lebt sie sich mehr und mehr in das helle Reich des Geistes ein. Was Gehör und Augenlicht ihr versagen, erschafft sich Helen Keller durch inneres Licht, das auch nach außen strahlt. Mit immenser Vorstellungskraft und Reflexion macht sie sich ein klares Bild von der Welt. Sie lauscht der Musik durch deren Schwingungen, ertastet Kunstwerke, spürt die Stimmung der Orte, an denen sie sich aufhält. Ihr reiches Gedankenleben und ihr Einfühlungsvermögen zeigen sich vielleicht am deutlichsten in dem Porträt, das sie von ihrer geliebten Lehrerin zeichnet; ihr Buch Teacher ist die beeindruckende Darstellung einer großen Erzieherpersönlichkeit – und zugleich ihrer eigenen geistigen Entwicklung. So ist Helen Kellers Leben auch ein Triumph des Geistes über enorme Einschränkungen.
Am 1. Juni 1968, mit fast 88 Jahren, stirbt die taubblinde Schriftstellerin und Vorkämpferin der Blindenbewegung. Sie tritt ein in die Welt des Lichtes – davon war sie selbst fest überzeugt.