Es gibt bestimmte Daten, in die sich auf merkwürdige Weise die ganze Geschichte hineinzudrängen scheint. Ein solches Datum ist der 9. November. An diesem Tag ist 1989 die Mauer gefallen, 1938 markiert das Datum aber auch die zerstörerischen Ereignisse der Novemberpogrome, die den Holocaust einleiteten (vorbereitet bereits durch den Hitler-Ludendorff-Putsch am 9. November 1923).
Angesiedelt zwischen Licht und Finsternis: Das ist offenbar eine Signatur dieses Tages – und genau dies gilt auch für den 9. November 1918. Es war einer der glücklichsten Momente deutscher Geschichte: Nach dem sinnlosen Befehl des Admirals der Hochseeflotte, trotz des bereits verlorenen Krieges die Schiffe zu einer selbstmörderischen «Entscheidungsschlacht» gegen England fertig zu machen, meuterten die Matrosen, wurden nach ihrer Inhaftierung von ihren Kameraden befreit, und der Funke sprang auch auf die Fabriken in den deutschen Großstädten über. Die Soldaten und Arbeiter stürmten überall im Lande die Rathäuser und riefen zuletzt am 9. November in Berlin in einem Generalstreik und auf Demonstrationszügen zum Aufstand gegen ein erstarrtes, menschenverachtendes und aus- beuterisches System auf. Sie waren nicht mehr bereit, sich als «Kadaver» im Krieg oder als Schräubchen im Getriebe einer kapitalistischen Wirtschaft missbrauchen zu lassen, sondern sehnten sich nach einer Gesellschaft, in der es politische Mitbestimmung, soziale Gerechtigkeit, Frieden gab. Die verkrustete Welt uralter monarchistischer Provenienz dankte an diesem Tage ab. Die seit dem 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung entstandene «soziale Frage» drängte nach Lösung, die Zeitgenossen spürten den großen geschichtlichen Aufbruch, der sich mit Beginn des neuen Jahrhunderts hinter den Ereignissen geltend machte.
Für einen Augenblick öffnete sich ein Spalt breit die Tür in eine moderne, menschenwürdigere Zukunft: Machtpolitik und egoistische Ökonomie sollten der Vergangenheit angehören. Gegen ein autoritäres Bildungssystem machten sich reformpädagogische Impulse geltend. René Schickele schrieb in seinem Buch Der 9. November (Berlin 1919): «Jetzt. Jetzt. Endlich. Jetzt! Die neue Welt hat begonnen. Das ist sie, die befreite Menschheit! Das Bild von Sais hat sich enthüllt. Ein Gesicht erscheint im Atmosphärenwust der Angst und Lüge: das Gesicht des Menschen.»
Der 9. November entblößte im Moment des größten revolutionären Triumphes aber sein Doppelgesicht. Kurz hintereinander wurden zwei Republiken ausgerufen: eine parlamentarische (durch Philipp Scheidemann) und eine kommunistische (durch Karl Liebknecht). Hinter diesen beiden Vorgängen standen zwei gegensätzliche weltanschauliche Welten: einerseits ein gemäßigtes Demokratieverständnis mit der Bereitschaft, das westlich orientierte, marktwirtschaftliche Wertesystem anzuerkennen, andererseits eine sozialistische Räterepublik – gestärkt durch den Sieg der bolschewistischen Revolution in Russland kurz zuvor.
Die Rätebewegung brachte eine bedeutende politische Innovation: Sie entwarf die Idee einer von unten ausgehenden Partizipation des Bürgers an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen – zugleich war sie aber weitgehend in Besitz genommen von der ideologisierten Direktive der Kommunisten, für die der Träger des Systems ausschließlich das Proletariat war.
Die Sozialdemokratie hingegen sah unter Friedrich Ebert die Notwendigkeit, revolutionäres Chaos zu verhindern und das Land vor allzu radikalen Umstürzen – so etwa vor einer Inbesitznahme der Unternehmen durch die Arbeiter – zu schützen.
So kam es zu jener Nacht, die für die weitere Geschichte entscheidend wurde: Am 10. November sollte der «Rat der Volksbeauftragten» als provisorische Regierung gewählt werden, seine Zusammensetzung würde über die Zukunft des Landes entscheiden. Da die USPD viele Sympathien bei den Revolutionären hatte, wusste die SPD, dass ihre Macht auf dem Spiel stand: In einer beispiellosen Aktion schleuste sie ihre Redner in die Betriebe und Regimenter ein und versuchte die Stimmung zugunsten ihrer eigenen Intentionen zu beeinflussen.
So gelang es, bei den Wahlen am nächsten Tag eine ausgeglichene Zusammensetzung zu erwirken, die sich durch den Vorsitz Eberts aber deutlich zugunsten der SPD verschob. Das Ergebnis ist bekannt: Ebert konnte mit der Reichswehr jenen unseligen Pakt schließen, der die revolutionären Kräfte in die Opposition drängte und der schließlich einen blutigen Bürgerkrieg zur Folge hatte, in dem die einen die Revolution fortführen, die anderen sie beenden wollten. Es entstand 1919 in Weimar eine «Republik ohne Republikaner», weil die republikanischen Kräfte sich mit diesem System, das enorme, später sich verheerend auswirkende Kompromisse enthielt, nicht identifizieren konnten und die konservativen Kräfte ohnehin keine Republik wollten. Es ereigneten sich die brutalen Morde an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Gustav Landauer, Kurt Eisner und anderen; wirtschaftliche Ideen moderner Formen der Sozialisierung von Betrieben, die zum Teil von den Unternehmern selbst initiiert worden waren, gingen unter. Der Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, formulierte im selben Jahr die Notwendigkeit, Deutschland in eine «Westdeutsche Republik» und einen östlichen Teil zu zerteilen. Eine Idee, die sofort mit großem Interesse vom englischen Kriegsminister Lord Milner zur Kenntnis genommen und an den Sekretär des Premierministers weitergeleitet wurde …
1918/19 ereigneten sich Weichenstellungen, die den tragischen Weg in das weitere Jahrhundert ebneten. In diesem Sinne lässt der 9. November auch eine dunkle Seite erkennen. Die der Revolution zugrunde liegenden Impulse sind noch nicht eingelöst: eine politische Mitbestimmung, die die Basis mit einbezieht, anstatt resignative Ohnmacht zu produzieren, sich auf Stimmabgabe zu beschränken und Protestwahlen zu provozieren, die gar nicht aus Überzeugung für die gewählte Partei zustande kommen; eine gerechte Wirtschaftsordnung, die die Menschen der Ängste purer Existenzsicherung enthebt und ihre produktiven Fähigkeiten freisetzt; ein freies Bildungswesen.
Der 9. November wurde von Historikern oft als Schicksalstag bezeichnet – vielleicht aber spricht seine Doppelsignatur noch mehr für eine andere Bezeichnung: Entscheidungstag.