Sie schrieb: «Sieh in mein verwandertes Gesicht.» Als diese Zeile veröffentlicht wurde, war sie 38, sie hatte ein junges, auffallend apartes Gesicht und tiefschwarzes Haar. Jahrzehnte später, sie war Anfang 70, schrieb sie irritierend eindringliche Liebesgedichte,
sie hatte immer noch dunkle Haare, aber ein zerfurchtes, nun wahrhaft verwandertes Gesicht. Wann war sie jung? Wann war sie alt? Ich kann diese Frage nicht beantworten und hier nicht ihren 150. Geburtstag würdigen – sie hätte es nicht gewollt.
Angemessener wäre ein besonderes Jubiläum: «Diesen Monat wäre Else Lasker-Schüler 143 Jahre alt geworden.» In ihren Ausweisen stand als Geburtsdatum nämlich nicht 1869, sondern 1876.
Im Januar 1894 heiratete sie den Arzt Berthold Lasker und übersiedelte nach Berlin. (Da war sie aber 24, nicht 17!) 1899 gebar sie ihren Sohn Paul, dessen Vater sei ein schöner Griechenknabe gewesen, den sie auf der Straße traf. Wir glauben heute zu wissen, wer Pauls Vater ist, aber wir verraten es nicht, sie wollte es nicht. Ob sie bei Pauls Geburt noch 30 oder schon 23 Jahre war, weiß ich nicht. Gewiss ist, dass sie 1903, als sie den um zehn Jahre jüngeren Herwarth Walden heiratete, sich diesem jahrgangsmäßig annäherte und ihren Ausweis erfolgreich fälschte, da stand nun also 1876. Ob auf der Heiratsurkunde aber Herwarth Walden stand, weiß ich auch nicht, der amtliche Name des jungen Musikers war Georg Lewin. Tatsache ist: Von nun an übernimmt sie nicht mehr den Namen ihres Mannes, sie vergibt Namen an alle ihre Freunde. Mit wechselndem Erfolg: Herwarth Walden wurde unter diesem Namen ein berühmter Kunstkritiker und Herausgeber der Zeitschrift Sturm – einen späteren Freund (Geliebten?) kennen wir jedoch nicht als «Giselheer, den Nibelungen», sondern schlicht als Gottfried Benn.
1912, als Herwarth Walden sie verließ, notiert sie: In der Nacht meiner tiefsten Not erhob ich mich zum Prinzen von Theben. Sie ließ sich mit Prinz Jussuf anreden, unterschrieb Briefe mit diesem Namen, diesem Titel und meldete sich so am Telefon. Für die berühmte expressionistische Anthologie Menschheitsdämmerung, herausgegeben von Kurt Pinthus, verfasste sie diesen Lebenslauf: Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam … Später behauptete sie, nur ihre Mutter sei Jüdin gewesen, ihr Vater dagegen ein arabischer Scheich.
Was für ein Chaos aus Wirklichkeit und Fiktion! Ich fasse zusammen: sie veränderte das Geburtsdatum, den Geburtsort, die Identität des Vaters, ihres Sohnes, das Geschlecht, den Namen, die Herkunft. Was dürfen wir ihr glauben? – Nun, darauf gibt es eine einfache Antwort: Alles!
Sie schrieb: Denn nichts geschieht wirklicher als in meinem Kopf. Damit sagt sie die Wahrheit – und ich kann es beweisen: Am 11.Februar 1869 wurde Elisabeth Schüler als jüngstes Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie in Elberfeld (heute Wuppertal) geboren. Man muss sich nur die Namen ihrer Brüder ansehen – Moritz, Alfred, Paul –, um zu erkennen, dass diese Familie keine jüdisch religiöse Tradition pflegte. Paul jedoch, ihr jüngster und am meisten geliebter Bruder, acht Jahre älter als sie, beschäftigte sich intensiv mit der jüdischen und später auch der christlichen Religion. Er erzählte ihr die biblischen Geschichten, und sie mag ungefähr sieben gewesen sein, als sie darin ihr späteres Alter Ego fand, Josef, Jakobs Sohn, den Träumer und Traumdeuter, der nach Ägypten verschleppt wurde, in die Fremde.
War sie nicht immer in der Fremde? Sie schrieb: Nur Ewigkeit ist kein Exil. Jussuf, Prinz im ägyptischen Theben, ist eben dieser Josef. Es ist möglich, dass um 1876 ihre Identifikation mit ihm entstand. Schon als kleines Kind spielte sie mit Wörtern. Und sie war Dichterin mit jeder Faser ihres Körpers, mit jedem Hauch ihrer Seele: geboren 1876 im Alter von sieben Jahren aus biblischen Geschichten, aus dem poetischen Spiel eines Kindes – nichts ist wahrer als das.
Auch das – was folgt?
Sie blieb nicht bei dem Geburtsdatum 1876, manipulierte weiterhin ihre Papiere, bis sie sich so weit verjüngte, dass in ihrem Ausweis als Geburtsdatum ein Jahr stand, in dem ihre Mutter bereits gestorben war. «Halt, Prinz Jussuf!», müssen wir nun ausrufen: «Das geht zu weit!»
Nein! Ich erhebe Einspruch gegen einen solch kleinlich bürokratischen Umgang mit der Zeit! Denn sie war Dichterin so durch und durch wie kaum eine andere. Und dichterisch war sie deutlich jünger als die um 1876 geborenen Dichter (1875 Rilke, 1874 Hofmannsthal). 1887 wurde Trakl geboren, lyrisch eher ihr Zeitgenosse. 1910 erschien ihr Gedicht Leise sagen, darin schwirren Sätze wie: Meine Gedanken kräuseln sich,/Ich muss tanzen. Und: Im Spiegel der Bäche/Finde ich mein Bild nicht mehr. Ich halte es für eines der Initiationsgedichte der modernen Lyrik. Eine Zeitung kommentierte: «Vollständige Gehirnerweichung hören wir den Leser – leise sagen.» Dieses «vollständige Unverständnis» zeigt, wie weit sie über ihre Zeit hinaus dichtete.
Was war denn nun falsch an ihrem Umgang mit Wirklichkeit? Gottfried Benn, den sie den «Nibelungen» oder auch den «Barbaren» nannte, paktierte zumindest zeitweilig nibelungentreu und durchaus barbarisch mit den Nationalsozialisten. Der arabische Vater ist ein Art Metapher für ihr Engagement in Jerusalem zum Frieden zwischen Juden und Arabern.
Den von ihr wenig geliebten Literaturwissenschaftlern hat sie mit ihrem flexiblen Geburtsdatum eine Brücke gebaut, damit sie an einigermaßen richtiger Stelle in den Literaturgeschichten genannt werden kann.
War sie noch etwas anderes als Dichterin? Ja: Eine unbeirrbar Streitende für Liebe und Gerechtigkeit, aggressiv auch Ohrfeigen austeilend. Eine leidenschaftlich Liebende, die von allen Männern verraten wurde – nur nicht von dem letzten, den sie liebte, der sie abwies, bemüht, sie nicht zu verletzen.* Eine innigst liebende Mutter, die ihr einziges Kind verlor – Paul starb im Alter von 28 Jahren an Tuberkulose. Eine in schlimmsten Zeiten beharrlich Suchende, stets auf dem Weg zu einem Gott der Liebe. Eine mutig für ihr
jüdisches Volk Kämpfende, die auch das arabische Volk liebte.
Ich erkläre mich als nicht zuständig für die Häufung des Wortes «Liebe» in diesem letzten Absatz, die Rechtfertigung dafür ist zu finden im Lebenslauf der Else Lasker-Schüler. Sie schrieb: Ich habe Liebe in die Welt gebracht – / Daß blau zu blühen jedes Herz vermag …
Was aber machen wir nun mit dem Jubiläumsjahr? Ach, das taugt doch nur, um sie wieder einmal in unser Gedächtnis zu rufen. Dazu brauchen wir kein Jubiläumsjahr! Lassen wir sie einfach dort bleiben. Es lohnt sich! Trotzdem – als ordentlicher Mensch muss man genau sein: Wie alt ist sie wirklich? Glauben wir ihr einfach: 1000 und 2-jährig, dem Märchen über den Kopf gewachsen.