Zwei Schwestern. Die eine, Reva, ist Schauspielschülerin und Bulimikerin und raubt ihrer großen Schwester Marjolijn den Schlaf.
Marjolijn, anderthalb Jahre älter, ist die steten Zweifel, die beißende Kritik und die bohrenden Fragen der kleinen Schwester seit je her gewöhnt. Dass Reef sie nachts anruft, um ihr ihre Ängste mitzuteilen oder ihre ebenso originellen wie verzweifelt-verdrehten Selbstanalysen darzubieten, ist nicht ungewöhnlich. Der Dialog zwischen den Schwestern wird als Monolog der Älteren wiedergegeben – eine raffinierte Erzähltechnik, die dem Leser Distanz zum Geschehen erlaubt. Die Stimme Marjolijns erzählt aus der Erinnerung, episodisch, nicht chronologisch.
Reva hat Schwierigkeiten an der Schauspielschule, eine demütigende Beziehung zu einem verheirateten Dozenten, schlechte Zähne, weil die Säure des stetig Erbrochenen ihren Zahnschmelz zerfrisst, und einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich. Sie liebt es, Schopenhauer zu lesen: Die Welt ist die Hölle! Ihren Weg in die Psychose und wieder hinaus beschreibt dieses Buch aus der Perspektive der nahestehendsten Person.
Reva ist ein eigenwilliger Charakter – künstlerisch begabt und unfähig, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen. Sie wird passiv, verbringt ganze Tage im Bett oder fährt hyperaktiv ziellos mit dem Fahrrad durch Amsterdam. Sie hat keine Freude an dem, was sie tut und ist schnell zu entmutigen. «Ich will überhaupt nichts und ich glaube an nichts mehr.» Erst im gemeinsamen Griechenlandurlaub erfährt Marjolijn vom Ausmaß des Essproblems ihrer Schwester und dem komplizierten System, nach dem sie isst oder sich übergibt – bis zu 20-mal am Tag. Mar erkennt, dass Reva immer weniger wird – körperlich und seelisch. Denn Reva hat «auch irgendwas mit Sex». Grazil, unsicher und schambesetzt lebt sie zugleich promiskuitiv.
Lange begreift Marjolijn nicht, wie ernst es um ihre Schwester steht. Sie hört ihr zu und ihre Kommentare sind mitfühlend, aber auch cool und mitunter zynisch. Es kommt zum Zusammenbruch und Reef wird in die Psychiatrie eingeliefert. Mar lockt diese Klimax aus ihrer emotionalen Reserve, denn die Angst um die Schwester geht an ihr Selbstverständnis: ihre Überlegenheit als die Lebenstüchtige war zur Gewohnheit geworden, die den direkten Kontakt verhinderte.
Die Erzählung legt verschiedene Spuren zu möglichen Ursachen für Revas Störung. Eine davon ist die Beziehung zum Vater, der Nähe und Berührung stets vermied. Doch eine eindeutige Antwort verweigert die Erzählung – durchaus lebensnah. In Revas kabarettistischem (!) Soloprogramm ist Leid, auch das Leid der anderen, zentrales Thema. Humor und Schmerz liegen dicht beieinander. Für Reef ist diese Verbindung Ausdruck des Menschseins. Die Bühne ist für sie der Moment des direkten Austauschs, der Begegnung, des Wahrgenommen Werdens.
Erna Sassen ist eine Meisterin, wenn es darum geht, psychosoziale Probleme exakt nachzuzeichnen, ohne auch nur eine ihrer Figuren zu verraten. In Komm mir nicht zu nahe berichtet sie über eine besondere Geschwisterbeziehung, darüber, wie man lebt, wenn die schützende Hülle fehlt und dass Lösungen immer gemeinsame sind. Ihre Protagonistinnen zeigen Mut und Lebenswillen, sogar in ihren selbstverleugnenden Zügen. Das macht die Geschichte nicht nur erträglich, es stiftet auch Hoffnung. Und Lachen. Ein Glücksfall von einem Roman.