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Aline Sax

Grenzgänger

Nr 238 | Oktober 2019

gelesen von Simone Lambert

Grenzgänger ist die dreiteilige Saga einer Berliner Familie von der Errichtung der Mauer im Jahre 1961 bis zu ihrem Fall 1989. Die Grenze ist in der Familiengeschichte stets gegenwärtig, wie eine Wunde, die nicht verheilt.
1961. Julian Niemöller, ein sogenannter «Grenzgänger», lebt im Ostteil Berlins und arbeitet im Westen. Nach dem Mauerbau vermisst er seine westdeutsche Freundin Heike. Als ein Grenzsoldat, der ihn nach einem misslungenen Fluchtversuch erpresst, bei einem Handgemenge stirbt, muss Julian fliehen. Er entkommt – durch stillgelegte S-Bahn-Tunnel und die Geisterbahnhöfe Berlins – mit weit­reichenden Folgen für den Rest der Familie …
Der zweite Teil fokussiert Marthe und Florian. Es ist 1977 und die Geschwister treffen sich mit anderen Studenten, um verbotene Bücher zu lesen und Westschallplatten zu hören. Der geflohene Onkel Julian wird in der Familie totgeschwiegen. Marthe und Florian, die sich mit Hans und Sophie Scholl von der Weißen Rose identifizieren möchten, beginnen – halb romantisch, halb rebellisch – politische Flugblätter zu verbreiten. Sie werden denunziert und verhaftet; aus Marthes Sicht werden die Haft, die Verhöre, die Folter geschildert.
Im Sommer 1989 setzt Teil drei ein. Es ist die Zeit der Montagsdemonstrationen und der ungarischen Grenzöffnung. Sybille, acht Jahre nach der Flucht ihres Onkels Julian geboren, arbeitet als Verkäuferin in einem Supermarkt. Ihr Wunsch nach Veränderung und der Mut, sich den Demonstrationen anzuschließen, wachsen erst mit der Freundschaft zu ihrem engagierten Kollegen Marco, für den sie schwärmt. Sybille hat sich angepasst, wird aber politisch aktiv, als eine Familienangelegenheit sie aufrüttelt und sie in der Kirchengemeinde zum ersten Mal vertrauensvolle Gemeinschaft erlebt.
Dieses Lehrstück deutscher Geschichte erzählt von Jugendlichen aus drei verschiedenen Phasen der DDR. Anhand des Schicksals der fiktiven Familie Niemöller spielt Aline Sax all jene Gegebenheiten durch, die aus der Sicht des Westeuropäers das Leben in der DDR prägten: Die Allgegenwart der Stasi, selbst in der Familie, Misstrauen als Normalität, die Schwierigkeiten bei der materiellen Ver­sorgung, der Wohnungsmangel, die Phrasen antikapitalistischer Agitation, die Strafen, die Familien von Republikflüchtlingen auferlegt wurden – Arbeitsverbot, Studienverbot.

Modern und zeitgemäß und vor allem spannend erscheint der Roman, weil der historische Stoff mit den Perspektiven der Heranwachsenden sensibel verwoben wird: Wir lesen von schwierigen Liebesgeschichten und plausiblen Fluchtabenteuern, die sich auf akribische Recherchen stützen. Dem Fluss der Sprache, von Eva Schweikart hervorragend übersetzt, ist anzumerken, dass Aline Sax sich viel Zeit genommen hat für die Entwicklung der komplexen Situation – und dass sie der emotionalen Seite des dramatischen Geschehens großen Wert beimisst. Nichts wird gerafft oder zugunsten der Erzählung vereinfacht. Ihr ist ein spannendes Buch ge­lungen, das der jungen Generation, die weder die DDR noch deren Ende kennt, Wissen über diese Periode der deutschen Geschichte und das Lebensgefühl Jugendlicher in der DDR vermitteln kann.
Wer sich außerdem einlesen will in die philosophische Auseinandersetzung einer Heranwachsenden mit der noch jungen DDR, sei zudem das hervorragende Buch Sumsilaizos von Sigrun Casper empfohlen.