Viele haben sich im Lauf ihres Lebens schon einmal die Frage gestellt: «Wer bin ich eigentlich? Was an mir ist Individuum, was Prägung?» Der norwegischer Kulturhistoriker, Essayist und Journalist Peter Normann Waage folgt in seinem tiefgründigen und dennoch kurzweiligen Buch ICH. Eine Kulturgeschichte des Individuums den großen Spuren des Individuums von der Antike bis zur Gegenwart, in der Philosophie von Sokrates bis Sartre und Foucault, in der Literatur von Homers Odyssee bis zu Harry Potter. Und dabei gelingt es ihm, nicht nur Kultur- und Geschichtsinteressierte zu erreichen, sondern auch junge Menschen, die Fragen an unsere multikulturelle Gesellschaft haben. Aktuell ein überaus drängendes Thema! (mak)
Es wird erzählt, dass der Philosoph Arthur Schopenhauer eines Tages in einem Park spazieren ging, der sich als Privateigentum herausstellte. Ein Aufseher erblickte den ungebetenen Gast und fragte barsch: «Wer sind Sie?» – «Ja, wenn Sie mir das mal verraten könnten, guter Mann», antwortete Schopenhauer. Wenn niemand die Frage stellt, weiß ich die Antwort. Wenn ich gefragt werde, bleibe ich die Antwort schuldig.
Auf der einen Seite ist «Ich» unproblematisch: dieser Körper, dieses Selbstbewusstsein, diese Lebenserfüllung – aber zugleich bin ich auch alles andere. Ohne mich kein anderer. Ich sehe, empfinde, beobachte und erkenne die Welt und alles – durch mich. Deshalb weiß ich, dass ich da bin. Was wird aus all dem anderen, aus der Welt, wenn ich nicht mehr bin? Verschwindet es ebenfalls? Ich bin außerdem von dem geformt, was mir begegnet, meiner Zeit, meinem Ort. Ich bin meine Gesellschaft, mein Geschlecht und mein Alter. Warum bin ich alles das und nicht das andere? Wann werde ich ich selbst, ein Teil der konkreten Zeit und des bestimmten Ortes? Wann höre ich auf, alles zu sein?
Diese Thematik wird ausgezeichnet behandelt in dem Film von Wim Wenders und Peter Handke Der Himmel über Berlin. Die Haupthandlung ist einfach und klar: Der Engel Daniel, einer der vielen Schutzengel, die die Berliner ständig im Auge haben und versuchen, ihnen zu helfen, möchte ein Mensch werden. Er will nicht mehr der abstrakte Geist sein, möchte riechen, schmecken, spüren, Farben sehen, die Zeit erfahren. Die Begegnung mit der Trapezkünstlerin Marion, auch sie mit Flügeln in der Zirkusmanege, liefert den Anstoß für seine endgültige Verwandlung. Durch den ganzen Film rezitiert Daniel ein Prosagedicht über das Staunen des Kindes: «Warum bin ich hier und warum nicht dort? Wann begann die Zeit und wo endet der Raum? Wie kann es sein, dass ich, als der, der ich bin, nicht früher war und dass ich als der, der ich bin, einmal nicht mehr der eine sein werde, der ich bin?» Und wie ein Echo klingt Marions Monolog: «Ich kann nicht sagen, wer ich bin. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich bin ein Mensch ohne Hintergrund, ohne Geschichte, ohne Land. Und ich gestehe: Ich bin hier, ich bin frei. Ich kann mir alles vorstellen. Alles ist möglich. Ich brauche nur die Augen zu öffnen und ich werde wieder – zur Welt. Jetzt. An diesem Ort. Ich bin glücklich.» – Die beiden, halb Engel, halb Mensch, schaffen den Spagat zwischen nichts und alles. Deshalb sind sie fähig, einander wahrzunehmen. Sie werden ganze Menschen. Sie wagen es, «gemeinsam einsam zu sein», wie Marion sagt, und Daniel erfährt etwas, was «kein Engel kennt». Sie werden Individuen.
Das Individuum ist wie sie eingespannt zwischen alles und nichts. Die beiden Außenpunkte symbolisieren sowohl verschlingende Abgründe wie positive Möglichkeiten … Daniel und Marion nutzen die Chance der Offenheit, als seien sie «nichts» in Erwartung von «allem», von sich und von der Welt. Damit werden sie sie selbst.
In der Anekdote über Schopenhauer klingt dasselbe kindliche Staunen an, wenn auch pessimistisch gewürzt. Sein Seufzer dem Parkwächter gegenüber ist keine Bitte um Verzeihung, sondern ein Festhalten der Frage: Wer bin ich wohl? Hier lebt das Individuum in der Spannung zwischen «nichts» und «alles», als Blick, Absicht, Vorhaben und Wahl. Als Ich.