Als Kind war Hector Malot (1830–1907) keineswegs von Büchern angetan; das Lesen langweilte ihn eher. Eines Tages jedoch entdeckte er auf dem Dachboden seines Elternhauses ein paar Bücher, die ihm interessant erschienen. Eines davon war Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Schon die ersten Seiten fesselten ihn ungemein, und er war fortan davon überzeugt, dass Lesen eine wunderbare Sache sei.
Ob es sich genau so abgespielt hat, lässt sich nicht sagen, denn aus einer anderen Quelle erfuhr ich, dass seine Mutter ihm von klein auf Geschichten erzählte und aus spannenden Büchern vorlas – gut möglich also, dass er schon vor der Entdeckung von Robinson Crusoe gern las.
Malot selbst hat einmal gesagt, ohne diese Lektüre wäre er niemals ein so begeisterter Leser geworden und gewiss auch kein Schriftsteller. Die Bücher auf dem Dachboden waren also ein Glücksfund – und ohne sie hätte es das Buch Nie mehr allein* (Originaltitel: Sans famille) nie gegeben.
Wie Malot dazu kam, gerade dieses Buch zu schreiben, ist interessant. Ein bedeutender Verleger der damaligen Zeit namens Pierre-Jules Hetzel, der eine pädagogische Zeitschrift für Kinder herausgab, bat ihn im Jahr 1868, für diese Publikation eine Fortsetzungsgeschichte zu schreiben. Und Hetzel hatte sich auch schon einen Titel dafür überlegt: «Kinder auf Reisen durch Frankreich». Ihm schwebte vor, dass die französischen Kinder auf diese Weise ihr Heimatland besser kennenlernen könnten. Der Auftrag sagte Malot zu, und so machte er sich ans Schreiben. Bis seine Geschichte in Buchform erschien, sollten aber noch zehn Jahre vergehen.
Im Jahr 1870 – Malot war mittlerweile verheiratet und Vater einer Tochter geworden – brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Sein Haus in Fontenay-sous-Bois bei Paris wurde von preußischen Soldaten beschlagnahmt, und er musste es mit seiner Familie verlassen. Als sie ein Jahr später wieder einziehen konnten, waren viele Sachen verschwunden, darunter auch ein großer Teil des Manuskripts von Nie mehr allein. Also musste Malot noch einmal von vorn anfangen. Hinderlich beim Schreiben war, dass der Verleger ihm nunmehr eine Reihe von Vorschriften machte, die ihm nicht behagten. Hetzel wollte nämlich eine lehrreiche Geschichte mit braven Kindern als Akteure. Malot hingegen waren Spannung und Abenteuer wichtig. Schließlich suchte er sich einen anderen Verlag und konnte das Buch nun so schreiben, wie er es wollte.
Jedes fertige Kapitel las er seiner inzwischen fast zehnjährigen Tochter Lucie vor und hörte sich ihre Meinung dazu an. Ihr widmete er das Buch auch. Im Vorwort liest man: «Beim Schreiben dieses Buchs habe ich stets an dich gedacht, mein Kind, und hatte ständig deinen Namen auf den Lippen. ‹Wird Lucie das verstehen?›, fragte ich mich immer wieder. ‹Wird Lucie das interessant finden?›» Ob das Buch ein Erfolg würde oder nicht, war Malot ziemlich gleichgültig. Er schrieb es für seine Tochter, und wenn sie Freude daran hatte, war ihm das Lohn genug.
Malot war bewusst, dass ein Buch erst interessant wird, wenn darin spannende, dramatische und auch traurige Dinge passieren. Und weil er die Leser in die Haut seines jungen Helden Rémis schlüpfen lässt, fesselt die Geschichte von Anfang bis Ende und hat auch hundertvierzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen nichts von ihrem Zauber verloren. Grund genug, sie nicht nur einmal, sondern immer wieder zu lesen.