Ich hatte heute Nacht einen Traum. In meinem Kopf stand ein Schreibtisch und daran saß Rudolf Steiner. Ich sah, wie er etwas auf einen Zettel schrieb und in eine der Schubladen steckte. Dann stand er auf, fuhr mit dem Finger über die Staubablage auf der Tischplatte, drehte sich um, winkte mir lächelnd mit dem staubigen Finger zu und verschwand. – Nein, ich habe natürlich nicht nach dem Zettel gesucht am anderen Morgen, aber ein Wahrtraum war es zweifelsfrei – zumindest was den Staub angeht. Eine Imagination: Berge von selbstproduziertem Mist, da liegen sie auf dem Schreibtisch. Ich fühle mich inspiriert zum Saubermachen. Ganz intuitiv reiße ich zunächst das Fenster auf – wegen der Wolken von Feinstaub, die ich gleich aufwirbeln werde. Ein kurzes Zögern, wirklich nur ganz kurz, vor meinem geistigen Horizont erscheint eine gewichtige Idee: Es könnte doch, wenn du das alles jetzt einfach so rausschaffst, ein entscheidender, eine lebenswichtiger Merkzettel verlorengehen … Da sind sie, die Widersachermächte, ich weiß, das müssen sie sein und nun erscheint mein Doppelgänger. Ein furchtbares Dreckgespenst mit ganz vielen Armen, er sieht aus wie eine tanzende Gottheit der Zerstörung, wedelt grinsend mit tausend Staublappen vor meiner Nase und flüstert dämonisch: «Hüte dich vor der Schnelle, das musst du erst alles lesen, Zettel für Zettel, Wort für Wort. Das schaffst du nie, jedenfalls nicht heute, wo du noch so viel anderes zu tun hast, mach’s besser morgen. Verstehst du?»
Jetzt gilt’s, sage ich mir, jetzt musst du standhalten, braver Geistesschüler, unerschrocken gegen die Geister des Chaos aus Müll und Mist. Ich meditiere, ich dirigiere meinen Willen und lasse ihn in Arme und Hände einschießen als wären sie Schaufelbagger. Eben will ich beherzt in den ersten Stapel einfahren, da flattert – vom Luftzug bewegt – ein Blättchen hervor und landet taumelnd wie ein Schmetterling zu meinen Füßen. Sieh mal an! Ein Schicksalswink, eine karmische Botschaft vielleicht, was mag darauf geschrieben sein? Ich gehe in die Knie und lese. Auf dem Zettel steht der freie Mensch – von Rudolf Steiner beschrieben vor mehr als hundert Jahren – und so sieht er aus: «Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.»
Das ist ja wohl die Höhe, den schlepp ich jetzt auch schon drei Jahrzehnte durchs Leben, diesen unbegreiflichen Satz. Da sitz ich armer Tor auf dem Fußboden und frage mich: Was jetzt? Soll ich jetzt weiter aufräumen, oder doch besser verstehen, was hier vorgeht? Von oben grinst der Drecksdämon auf mich herunter und murmelt: «Tja, entweder oder …!» Da haben wir’s, das Problem. Von wegen munter drauflosfuhrwerken im Handeln, da kommt man doch kaum zur Besinnung – aber vor lauter Verständnis weiß man oft kaum noch, was man tun soll. Außerdem: Handlung ist Wille, und Wille ist doch immer das, was ich will, während verstehen meist das ist, was ich nicht will. Oder?
«Sag ich doch», sagt der Dämon und kichert, «hör mal, am besten gehst du spazieren, da kannst du gleichzeitig handeln und denken.» Dann zieht das Drecksgespenst einen kleinen Hammer hervor, wie eine Schöpfung aus dem Nichts, und gibt mir eins über den Kopf. Ich versuche mich noch aufrecht zu halten, indem ich mich an die unterste Schublade klammere, dann falle ich in Ohnmacht. Im Fallen muss ich die Schublade aufgerissen haben und mir stehen sämtliche Haare zu Berge, als ich, ohnmächtig wie ich bin, sehe, was sich jetzt ereignet.
Aus der Schublade fliegt der Geist der Freiheit und mit ihm eine ganze Putzkolonne freier Geister, die wirbeln empor, packen den Staubdämon an seinen tausend Armen und dann – ich traue meinen Augen kaum – tanzen sie oben auf der Schreibtischplatte Tango mit ihm. Ehe sie alle miteinander zum Fenster rausfliegen, dreht sich der kleinste Freiheitsgeist, der letzte in der Kolonne noch einmal um und ruft mir zu: «Du hast die Liebe vergessen!» Dazu klappert er mit seinem Putzeimerchen und dann klingelt der Wecker. Ich werde wach. Endlich ist der Groschen gefallen.
In der Liebe ist das Handeln immer verständig – da ist es mein Wille, dass der Wille des andern geschieht. Darum ist die Freiheit ohne Liebe nicht denkbar und die Philosophie schon gar nicht. In der nächsten Nacht, das nehme ich mir fest vor, werde ich Rudolf Steiner eine traumhafte Geburtstagskarte schreiben, mit herzinnigem Dank für seine Worte, die einem lebenslang zu denken geben.
P.S.: Ja, ja, den Schreibtisch räum ich dann auch nächstens auf …!
von Ute Hallschka