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Lynne Jonell

Nr 143 | November 2011

Traumgeschöpf

Oft werde ich von Kindern gefragt, woher ich meine Einfälle nehme. Bei Emmy und die Wunderschrumpf­ratte hat es mit einem absurden Traum angefangen. Ich träumte von einer kurven­förmigen Linie auf einem grünen Blatt Papier. Als ich aufwachte, war der Traum noch ganz gegenwärtig – die Farbe, die Kurve –, aber mehr gab es da auch nicht.
Normalerweise hätte ich solch einen Traum nicht weiter beachtet, aber zu der Zeit malte ich öfter, deshalb wollte ich diesem Bild nachgehen. Ich kaufte mir grünes Papier und zeichnete die kurven­förmige Linie genau so, wie ich sie geträumt hatte. Es war wie ein Spiel. Ich wusste nicht, woher die Linie gekommen war und wohin sie mich führte. Ich betrachtete sie und dachte: Warum so gebogen? Und plötzlich sah ich den Stängel einer Pflanze darin …
Nachdem ich die Pflanze gezeichnet hatte, kam mir der untere Teil ziemlich kahl vor. Ich fragte mich, was da hingehört, und die Antwort kam postwendend: ein kleines Mädchen. Ich hatte mir die Pflanze höchstens einen halben Meter hoch vorgestellt, was be­deutete, dass das Mädchen nur zehn oder zwanzig Zentimeter groß sein konnte. Hmmm, interessant, dachte ich und zeichnete sie.
Das kleine Mädchen sah sich um, und ich fand, sie könnte etwas ziehen, also zeichnete ich einen roten Wagen dazu. Und dann fragte ich mich natürlich: Was ist in dem Wagen? – Ich wusste es sofort:
eine Ratte. Beim Zeichnen musste ich lachen. Das war eine theatralische Ratte. Eine männliche übrigens. Eine Ratte, deren Gefühle gerade verletzt worden waren und die sich furchtbar selbst bemit­leidete. Plötzlich wusste ich auch, was sie sagte, und ich schrieb es dazu: «Womöglich sterbe ich daran. Dann wird es ihnen leid tun.»
«Es tut ihnen schon jetzt leid», sagte Emmy.
«Aber nicht genug», sagte der Ratz, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Natürlich musste es eine Geschichte zu diesem Bild geben, also fing ich zu schreiben an. Schon nach zwei Tagen merkte ich, dass eine Hintergrundgeschichte in mir aufstieg, die für ein Bilderbuch viel zu lang war. Emmy hatte inzwischen Eltern bekommen – distanziert, selbstsüchtig, reich und oberflächlich. Dann tauchte noch eine Nanny auf, die schön, manipulierend und böse war.
Ich schloss die Augen, um mir Miss Barmy besser vorstellen zu können, und sah, dass sie einen Spazierstock hatte, in den die Gesichter von kleinen Mädchen eingeschnitzt waren – Mädchen, um die sich die Nanny «gekümmert» hatte. Zu Emmy sagte sie, eine leere Stelle sei für sie reserviert, da werde ihr Gesicht eines Tages hinkommen.
Das verursachte Emmy Unbehagen, und sie fragte sich, was mit den Mädchen wohl geschehen war. Das tat ich auch, aber diese Geschichte passte nicht mehr in das erste Buch. Also kam es zu einer Fortsetzung! Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es drei
weitere Fortsetzungen braucht, bis ich mit der ganzen Geschichte aus Emmys Welt fertig bin – einer Welt, die ihr Dasein mit einem rätselhaften Bild aus einem Traum ankündigte.
Ich habe so eine Theorie über die Vorstellungskraft. Sie ist wie ein Zimmer mit einer Tür. Wenn ein Einfall kommt und anklopft, wartet bereits ein zweiter Einfall im Flur und beobachtet alles. Und wenn wir mit dem ersten nichts anfangen, dann zuckt
der zweite die Schultern und sagt: «Du brauchst mich nicht» und verzieht sich wieder.
Aber ich lerne allmählich abzuspüren, wann ein Einfall oder ein Bild Potenzial hat. Dann zieht und zupft es leise an mir und eine seltsame Unruhe ergreift mich. Ein winziger Schnipsel schwebt an meinem inneren Auge vorbei, ein flüchtiger Anblick von fast gar nichts. Ich komme mir immer noch ein bisschen albern vor, wenn ich darauf achte. Aber ich bleibe dran.