Annejet Rümke, 1955 geboren, ist Ärztin und Dozentin für Psychiatrie in verschiedenen Ausbildungen unter anderem in ganz Europa. Sie hat inzwischen zwei umfangreiche Bücher veröffentlicht.
«Menschen und ihre Geschichten haben mich immer fasziniert: Lebensgeschichten, Märchen, Mythologien und Geschichte allgemein. Schon mit vier Jahren wollte ich Ärztin werden. Während meines Medizinstudiums in Amsterdam bemerkte ich, dass die technische und wenig spirituelle Herangehensweise in der heutigen Medizin mich überhaupt nicht ansprach. Der Mensch hinter den Symptomen wurde nur wenig sichtbar. Nach meiner Ausbildung zur Hausärztin habe ich sieben Jahre lang sowohl in der Kinder- wie auch in der Erwachsenenpsychiatrie gearbeitet. Parallel zu einer Ausbildung als Beziehungs- und Familientherapeutin machte ich damals auch eine Ausbildung zur Geschichtenerzählerin. Aus persönlichen Gründen konnte ich die fast abgeschlossene Ausbildung zur Psychiaterin nicht zu Ende führen und entschied mich im Jahr 1994, eine eigene Praxis zu eröffnen, in welcher die Themen Entwicklung und persönliche Begegnung im Mittelpunkt standen. Sie befindet sich auf einem mobilen Wohnboot in Amsterdam, wo ich mit meinem Mann seit 30 Jahren auch wohne. Regelmäßig unternehmen wir damit Fahrten über Flüsse, im Wattenmeer oder nach Frankreich.
1995 haben wir als eine Gruppe von Therapeuten eine anthroposophische Gemeinschaftspraxis in Zaandam eröffnet, wo ich noch immer mit viel Freude dabei bin. Wir arbeiten auf Basis der Autonomie der Patienten und Freiheit in der Arzt-Patientenbeziehung. Ich strebe danach, dass Menschen aus innerer Kraft im Leben stehen können. Man muss als Arzt oder Therapeut ständig das Ich des Patienten wecken, es einladen, statt es hinter Protokolle, Regel oder hierarchische Strukturen wegzuschieben. Heute bin ich auch Mitarbeiterin einer anthroposophischen Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Amsterdam. Künstlerische Therapien und Bewegungstherapien spielen hier eine wichtige Rolle; das ist auch in meinen Therapiegruppen, Kursen und Seminaren so.»
In ihrem auf Niederländisch erschienen Grundlagenwerk Erkundungsreisen im Gebiet der Psychiatrie, beschreibt Rümke psychiatrische Probleme, die in der gängigen Psychiatrie als «Krankheitsbild» betrachtet werden und aus dieser Perspektive einer Behandlung bedürfen: «Man kann dieselbe Problematik jedoch auch unter der Perspektive der Ereignisse im Lebenslauf betrachten. Dann ist Therapie weniger ein Behandeln, Wegtherapieren, sondern vielmehr ein Durcharbeiten, Umarbeiten und Verwandeln. Schließlich lassen sich psychiatrische Krankheitsbilder auch als Herausforderungen des Schicksals sehen, als Entwicklungsaufgaben. Psychiatrie ist eine Erkundungsreise durch die Landschaft der menschlichen Seele. Jede Beschreibung, jeder Versuch, etwas begrifflich festzulegen, ist so etwas wie ein Foto dieser Landschaft. Die Konturen bleiben sichtbar, doch die Farben sind verblasst, das Leben hat sich daraus zurückgezogen. Dennoch lässt sich durch das Betrachten vieler Fotos, die jeweils aus einer anderen Perspektive aufgenommen worden sind, eine Vorstellung einer bestimmten Landschaft bilden, auch wenn man selbst nicht dort gewesen ist.
Auf diese Weise kann man auch versuchen, sich der Psychiatrie zu nähern, immer wieder aus anderen Betrachtungswinkeln, von anderen Gesichtspunkten aus nach einem Verständnis suchend. Denn letztendlich geht es gar nicht um das Etikett ‹krank› oder ‹gesund›, ‹verrückt› oder ‹angepasst›, sondern um das Leiden und die Not von Menschen und den Versuch, sie zu verstehen und ihnen in ihrer Not beizustehen.»
Von Frank Berger