Titelbild Hochformat

Marie-Thérèse Schins

Nr 147 | März 2012

Flügelgefühle

Über mir ein sternenklarer, pechschwarzer Nachthimmel. Vor mir der weite, glitzernde und wispernde Ozean im Südwesten Indiens. Am Horizont tanzen goldgelbe Lichter der Öllampen auf den Katamaranen der Fischer im leichten Wellengang auf und ab. Eine lauwarme Tropennacht. In dem Augenblick wird mir schlagartig bewusst: Es ist soweit.
Endlich kann ich anfangen das aufzuschreiben, was ich seit Jahren in mir trage, seitdem ich durch Indien reise und dort mit indischen Freundinnen in Kinderprojekten arbeite. Schon lange ist es mein Wunsch, über diese Kinder zu schreiben, die ich in staatlichen Schulen, im Krankenhaus, zu Hause, im Waisenhaus oder in Armenschulen, im Tempel und auf der Straße beobachte und erlebe.
Das ist viel. Viel zu viel. Für all dieses Erlebte und Durchlebte brauche ich einen sensiblen Filter. Dabei kann mir diese unendlich schöne Tropennacht helfen, den Anfang und einen Raum auf den noch unbeschriebenen Blättern zu finden.
Von meiner Loggia trage ich den kleinen Tisch runter zum Meer, stelle ihn in den noch sonnenwarmen Sand.Danach hole ich einen Hocker, das Windlicht, meinen Füller, das Tintenfass und den Schreibblock. Eingewickelt in einem großen Tuch aus weicher Baumwelle fließen im flackernden Schein einer Kerze Buchstaben aus meiner Hand aufs Papier. Endlich! Zwei quicklebendige und vitale Kinder kommen und bleiben: Neena und Akhil. Sie begleiten mich durch viele Stunden, während das Wasser steigt und meine Schreibinsel und ich umspült werden.
Ich schreibe bis zur Erschöpfung. Erst als ein blasses Licht den Morgen ankündigt und die Fischer zur Küste rudern, atme ich erleichtert auf. Ich habe es geschafft! Der Anfang ist da und eine schwere Last fällt mir von den Schultern. Ins Tuch gewickelt gehe ich langsam ins Wasser, lasse mich fallen und auf dem Rücken treiben.Die Sonne blinzelt bereits durch die Palmenwipfel und ein blasser Mond zwinkert mir noch zu, während die geschriebenen Worte in bunten Bildern vorbeiziehen …
Meinen allerersten Schreibtisch gab es vom niederländischen Designer Tjerk Reijenga unter dem Namen «Pilastro». Damals unter Jugendlichen der absolute Renner und leider sehr teuer.
Lange brachte ich Opfer und sparte. An der kleinen, schiefergrauen Schreibplatte mit den drei farbigen Regalen aus Stahl für Taschenund Schulbücher wuchsen mir Flügel, die mich auf Wörterwellen davonfliegen und nicht nur schmachtende Gedichte über zahlreiche unbeantwortete Lieben schreiben ließen. Dort spürte ich etwas Göttliches, Überirdisches und Unwirkliches, was ich noch nicht zu deuten wusste.
«Glaubst du an unsere Götter?», fragte mich mal ein indischer Junge. Ehe ich antworten konnte, sagte er: «Weil ich weiter zur Schule gehen darf, glaube ich, dass es auch einen Schulgott geben muss. Ich weiß nur nicht, wie er heißt. Vielleicht frage ich mal den Priester in unserem Tempel.»
Ich schrieb überall: in der Stille und mitten im Lärm.Auf Papierfetzen, Zetteln, der Rückseite von Rechnungen, in kleinen Gedankenbüchern. Ich schrieb in Hotelzimmern, in der Bahn, im Flugzeug, in Kneipen, Restaurants,Tempeln, Kirchen und Bibliotheken. In der Natur. Und natürlich zu Hause, auch in der Badewanne, auf einem Spezialbrett. Aber seit meiner inspirierenden schiefergrauen Pilastrofläche hatte ich nie mehr dieses überirdische Flügelgefühl wie damals, als ich irgendwo dicht bei einem Gott gewesen sein muss.
Jahrzehnte ist es her, doch heute Nacht war dieses entrückte Empfinden plötzlich wieder da. Möglicherweise gibt es einen Schreibgott?! Vielleicht treffe ich den kleinen, indischen Jungen einmal wieder und dann werde ich ihn bitten, seinen Priester zu fragen.