Iris wurde 1945 in Schweden geboren und galt in ihrer Kindheit vielen als «geistig behindert». Sie war störrisch, lernunfähig, schrie, nässte ein und biss kleine Kinder. «Sie kann ein totes Pferd auf die Palme bringen», sagte die Mutter. «Eine Tracht Prügel würde ihr nicht schaden», meinten andere. Heute würde man bei Iris Autismus diagnostizieren. Die Liebe und Zuwendung ihres Vaters haben sie mit 12 Jahren bewogen, sich der «Normalen Welt» zuzuwenden und eine Brücke über ihre Dysfunktionalität zu schlagen. Heute lebt sie ein fast «normales» Leben, ja, sie ist paradoxerweise Expertin für Kommunikation. «Normal» ist Iris aber nicht – sie ist viel, viel mehr!
«Ich habe klare Erinnerungen an Iris. Iris, das war sie, das war das Mädchen. In ihrer Welt gab es keine Menschen als solche, es gab nur Dinge, und zwar immer nur ein Ding auf einmal. Manchmal stand es still, und man konnte an ihm riechen, in es hineinbeißen, es festhalten oder wegwerfen. Manchmal bewegte es sich und machte Geräusche – das war lustiger. Und wenn es sehr laut klang, dann gab es ein schönes Licht um es herum, und die Lichtzungen bildeten schöne Muster, die sich die ganze Zeit in sich schlängelnden Formen bewegten …
Iris liebte Wasser, hasste es aber, die Kleider ausziehen zu müssen. Sie rollte sich in jeder Pfütze und rannte raus, wenn es regnete, und stellte sich unter die Regenrinne. Da konnte sie sich dann die Kleider vom Leib reißen und nackt herumspringen, auch wenn es noch so kalt war.
Die Mutter musste jeden Abend einen Kampf mit Iris ausfechten, um sie dazu zu bringen, ihre Kleider auszuziehen. Frisch gewaschene Kleider verabscheute Iris. Die Kleider waren eins mit ihr. Sie waren Iris, und man konnte sie nicht wegnehmen. Wenn sie nass wurden und klebten, dann schon, doch dann konnte man nichts anderes anziehen. Dann musste das Mädchen nackt sein. Das war schön, das war frei. Wenn jemand ihr die Kleider wegnehmen wollte, solange sie trocken waren, war es, als würde sie in einem Kessel auf dem Feuer landen, und sie sah überall Hände. Lange schmale Finger mit Nägeln, und Hände, die hart waren und sie packten. Das war nicht auszuhalten, und sie riss sich los. Sie versuchte, dem zu entkommen, aber es waren überall Hände. Irgendwann kam dann Wasser, und dann verschwanden alle Hände, und es wurde wieder angenehm.
Dann kam etwas Fremdes. Das war etwas, in was sie hineingestopft werden sollte. Es roch fremd und war hart und unangenehm. Wieder kamen die Hände und waren überall. Es brannte wie Feuer auf ihrer Haut, und es saß an Armen, die sich schnell bewegten und denen man nur schwer entkommen konnte. Das Mädchen glitt unter den Tisch, aber die Hände kamen hinterher und zogen sie hervor. Das Mädchen versuchte, aus der Tür zu rennen, aber die Tür war geschlossen, und oft stand auch ein Mensch im Weg. Der hatte auch Hände, die sich bewegten und sie behinderten und packten und festhielten.»
Iris Johansson schildert ihre Kindheit zunächst aus der Sicht der «Normalen Welt», dann aus der Sicht «des Mädchens» Iris, und schließlich ihre «Richtige Welt», mit atemberaubenden geistigen und Außerkörperlichen Erfahrungen. Impressionistische Ausdrucksfülle, eine Prise Humor und außerordentlicher Scharfsinn machen diese Lebensbeschreibung für jeden Einzelnen relevant und lesenswert. Im Schlusskapitel beantwortet Johansson viele Fragen, die ihr Eltern autistischer Kinder stellten.
Von Diethild Palttner