Meine Auseinandersetzung mit dem Thema «Krebs bei Kindern» begann 1995 mit einem heiklen Auftrag. Für GEO sollte ich eine Reportage machen über das Neuroblastom, wohl eine der bösartigsten und rätselhaftesten Krebserkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern bis vier Jahre. Manchmal heilt so ein Neuroblastom wie durch ein Wunder aus, aber nur allzu oft stößt die moderne Medizin an ihre Grenzen und kann den Kindern nicht helfen. Es war ein Thema, das mich nicht nur als Journalistin, sondern auch als Mutter einer damals vierjährigen Tochter sehr berührte.
Bei meinen Recherchen fuhr ich unter anderem nach Herdecke ins Gemeinschaftskrankenhaus, das bekannt ist für seine hoch qualifizierte integrative Kinderonkologie. Dort sprach ich mit Dr. Christoph Tautz, der die Station als Leitender Arzt aufgebaut und ihren guten Ruf begründet hat, über die Frage, was Eltern in so einer verzweifelten Situation überhaupt tun können. Er sagte, ein Tumor sei nicht nur ein verschluckter Gegenstand, den man einfach wieder loswerden müsse. Die Angst vor dem Rückfall sei damit ja nicht aus Welt. Es sei wichtig, dass Eltern grundlegende Fragen an sich heranlassen und nach Antworten suchen. Fragen wie: «Was will uns die Krankheit sagen? Welche Richtung soll unser zukünftiges Leben nehmen? Was lasse ich wachsen anstelle des Rezidivs?»
Meine Recherchen zeigten: Immer dann, wenn sich Eltern offen und ehrlich mit diesen Fragen auseinandersetzten, erwuchs aus dem Schicksalsschlag ein neuer Lebensweg, erschloss sich aus der Krankheit ein Sinn, der ohne sie nie erkannt worden wäre. Der Vater einer dreijährigen Tochter brachte es für sich so auf den Punkt: «Die Krankheit hat mich erst zum Vater gemacht.» Eine Mutter sagte: «Unsere Lebenseinstellung hat sich verändert: wir planen nur noch bis zum Urlaub, und wir haben weniger Ehrgeiz, auch was die Kinder betrifft.» Ähnliches findet sich auch in den Gesprächen für das Buch Mein Kind hat Krebs. Was können wir tun?, das ich zusammen mit Dr. Genn Kameda (siehe hierzu auch «im gespräch» in dieser Ausgabe) geschrieben habe.
Dieser positive, in die Zukunft gerichtete Blick auf eine schwierige Lebenssituation hat mich weiter begleitet – auch in meiner journalistischen Laufbahn. Denn die von Dr. Christoph Tautz genannten Fragen sind ja nicht nur auf Krebserkrankungen im Kindesalter anwendbar, sondern auf jede schwere Krankheit. Prof. Dr. Peter Matthiessen von der Universität Witten/Herdecke hat diesen Gesichtspunkt ebenfalls aufgegriffen. Er und seine Mitarbeiter gehen der Frage nach, ob und wie der Mensch an der Auseinandersetzung mit einer Krankheit reifen kann, nach dem Motto: «Wofür mag es einstmals gut gewesen sein, dass ich diese Krankheit durchmachen musste?» Es sind Erkenntnisse, die oft erst nach vielen Monaten oder Jahren deutlich werden. Sie zeigen aber, wie wichtig es ist, dass wir Krankheit und Gesundheit in einem anderen, differenzierteren Licht sehen als bisher, gerade in einer Zeit, in der der Mensch immer stärker atomisiert und in seine genetischen Einzelteile aufgespalten wird. Jede schwere Krankheit ist eine Botschaft, eine Aufforderung, den Kurs des Lebensschiffs zu überdenken und gegebenenfalls die Richtung zu ändern. In diesem Sinne ist Therapie eben auch nicht nur Krankheitsbeseitigung, sondern Entwicklungshilfe. Und die Medizin ist nur dann eine Humanmedizin, wenn sie sich als Entwicklungshilfe begreift. Es ist mir ein großes Anliegen, das Augenmerk verstärkt auf diesen Entwicklungsgedanken zu richten – um damit die Medizin wieder ein Stückweit menschlicher zu machen und den Menschen in den Mittelpunkt zu rücken.