Ein verfallenes Gelände, umgeben von Grün. Ab und an ein Spaziergänger mit seinem Hund, oder ein Radfahrer, der sich neugierig umschaut. Nur wenige Menschen, aber überall Spuren der Vergangenheit. Die Geschichte liegt hier offen, nackt.
Das ist die Aussicht aus meinem Atelier. Es ist genau der richtige Inspirationsort für das, was ich hier mache: Zeichnen. Und ich zeichne, solange ich mich erinnern kann. Als Kind entdeckte ich überall Möglichkeiten, etwas zu kreieren, und das beschränkte sich nicht nur auf ein Blatt weißes Papier. Ich zeichnete in meine Schulhefte, auf Tische, an die Wand, auf meine Kleider.
Aufgewachsen bin ich in einem alten Haus mit großem Garten im Zentrum eines Dorfs. Dieser Ort war für mich eine Quelle der Inspiration. Ich zeichnete alles, was ich um mich herum sah. Oft Details, die anderen Menschen entgingen: die Nerven kleiner Blätter, Luftblasen im Eis, Mücken, die abends in der untergehenden Sonne im Garten tanzten. Ich war fasziniert von diesen Dingen und ging ganz darin auf. Ich vergaß die Welt um mich herum und fantasierte von anderen Welten voller Möglichkeiten. Meine Fantasie wurde genährt von den spannenden Geschichten, die mir mein Vater erzählte. Da gab es den Geheimgang, der von unserem Haus zum alten Kloster führte. Schätze, die bei uns auf dem Dachboden verborgen lagen. Und die große, hohle Eiche, nach der wir bei jedem Waldspaziergang suchten. Ein verzauberter Baum, an dem in der Abenddämmerung Elfen und Zwerge zusammenkommen, um sich die Höhepunkte des Tages zu erzählen.
2008 schloss ich mein Studium an der Kunstacademie Breda ab. Ich hatte mich für die Studienrichtung Animation entschieden, weil ich lernen wollte, meine Zeichnungen in Bewegung zu bringen. Es ist ein geradezu magischer Moment, wenn stehende Bilder in Bewegung kommen – vor allem wenn es die eigenen Zeichnungen sind. – Obwohl Animation mich seit damals fasziniert, vermisste ich das Gefühl, ganz in einer Zeichnung aufgehen zu können. In den Details. In einer einzigen Zeichnung eine ganze Geschichte erzählen zu können und eine Atmosphäre zu schaffen, die Menschen mit sich nimmt in eine andere Welt. Deshalb verlegte ich mich nach meinem Studium immer mehr aufs Zeichnen.
Der Gedanke, Kinderbücher zu illustrieren, reizte mich zusehends. Ich stellte es mir wunderbar vor, an der Erlebniswelt der Kinder mitwirken zu können. Nachdem ich mein erstes Kinderbuch illustriert hatte, war ich mir sicher: das war es, was ich wollte. Schon bald darauf bekam ich den Auftrag, die deutsche Ausgabe von Paul Biegels Eine Geschichte für den König zu illustrieren – eine große Ehre, ist er doch einer der bekanntesten niederländischen Kinderbuchautoren. Die Atmosphäre, die Poesie dieser Geschichte berührten mich tief. Ich war für kurze Zeit wieder Kind, hineingezogen in die wunderbar-wunderliche Welt, die Paul Biegel entstehen lässt, und konnte mich in den Illustrationen richtig ausleben. Es folgte eine weitere wunderbare Geschichte von Paul Biegel: Die Prinzessin mit den roten Haaren (beide im Verlag Urachhaus erschienen).
Inzwischen arbeite ich als «Fulltime-Illustratorin». Seit einem Jahr liegt mein eigenes Atelier in einem ehemaligen Militärgelände. Demselben Gelände, auf dem mein Opa und mein Urgroßvater früher ihren Dienst abgeleistet haben. Wenn ich mit meinem Fahrrad aufs Gelände fahre, geht es entlang verfallener Gebäude und verwilderter Büsche, die einst als tadellose Beete angelegt worden waren. Rechts liegt eine überwucherte militärische Sturmbahn. Ein Stück weiter ein offenes Feld, über das fast jeden Morgen ein Bussard fliegt. Es ist ein besonderer und inspirierender Ort und für mich genau der richtige Platz. Ich fühle mich hier, wie ich mich als Kind in meinem Elternhaus fühlte. Ich blicke mit erstaunten Augen herum und nehme alles in mich auf, um es dann in meinem Atelier zu Welten voller kleiner Details auszuarbeiten.
Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg