Meine erste Kindheitserinnerung ist der Blick auf die Alpen vom Starnberger See aus. «Schau die großen Berge!», sagte ich zu meiner Mutter. Noch eine andere Erinnerung habe ich von diesem See: Das große Flugzeug «Do X», das 200 Personen tragen konnte, war dort gewassert. Man konnte es bis ins Cockpit besichtigen. Wir wohnten damals in der Luisenstraße in München. Meine Großmutter ging mit mir oft an die frische Luft, und ich konnte in die Kellerfenster der nahen Technischen Hochschule (jetzt Technische Universität) sehen, wo Studenten am Reißbrett zeichneten. Das faszinierte mich, und es entstand der Wunsch, dort einmal lernen zu dürfen.
Doch dazwischen lag der Krieg und seine Grausamkeit, der sich schon in der Schule – ich war in der ersten Klasse – eines Tages am Lehrerpult zeigte. Dort standen ein Stahlhelm und eine brennende Kerze. Die Lehrerin verkündete uns, dass wir alle einmal Soldaten werden sollten. Hitler hatte die allgemeine Wehrpflicht ausgerufen. Ich wollte gar nicht Soldat werden. Ich hatte andere Pläne.
Mit neun Jahren erfolgte der Umzug aufs Land, nach Irschenhausen im Isartal, und im nahen Icking war eine private höhere Schule, die ich besuchen konnte. Den Schulweg bewältigte ich mit dem Rad oder im Winter mit Ski, nie aber «nur» zu Fuß.
Mit 10 Jahren war es damals eigentlich selbstverständlich, dass man zum «Jungvolk» zu gehen hatte. Ich ging ein Jahr lang nicht hin. Dann fragte mich eines Tages der dortige «Führer», ein Junge zwei Klassen über mir, warum ich nicht zum Appell käme. Ich log: «Meine Mutter lässt mich nicht». Seine Antwort brannte sich ein: «Sag deiner Mutter einen schönen Gruß von mir, wenn sie dich nicht gehen lässt, zeige ich sie an, dann kommt sie nach Dachau!» Das musste man ernst nehmen, ich ging von da an hin.
Während meiner ganzen Schulzeit war für mich der Bau von Modellflugzeugen wichtig. Ich hatte einen etwas älteren Freund, der mir dabei half. Bei schlechtem Wetter bauten wir die Modelle – es musste jede Rippe des Tragflügels und jeder Spant vom Rumpf mit der Laubsäge von Sperrholz ausgesägt werden. Das fertige Gerippe wurde mit Papier bespannt und lackiert. Bei schönen Wetter waren wir nachmittags draußen und ließen unsere Modelle fliegen.
Die Hausaufgaben litten natürlich unter dem Hobby. Ich war nie ein guter Schüler, ausgenommen in Mathematik. Da konnte ich Mitschülern helfen. Doch einmal gelang es mir, im Deutschunterricht zu glänzen: Wir sollten ein Referat halten. Ich wählte den Titel «Wie fliegt ein Flugzeug» – und hatte damit großen Erfolg.
In meiner frühen Jugend bekam ich einen Polyeder-Baukasten geschenkt. An Wintertagen, an denen man keine Flugmodelle fliegen lassen konnte, beschäftigte ich mich intensiv mit den Stangen und Ringen aus diesem Kasten. Als ich alles ausprobiert hatte, was der Kasten bot, schenkte ich ihn meiner geliebten Mathematik-Lehrerin. Dieser Kasten war die erste Grundlage für mein kürzlich erschienenes Buch über die «Platonischen Körper».
Mit 14 Jahren kam man automatisch in die «Hitlerjugend». Man hatte eine gewisse Auswahl, ich wählte die «Flieger-Hitlerjugend». Jedes Wochenende verbrachte ich so im nahen Walchstatt, wo wir mit dem «S G 38» kleine Sprünge machten. Mit ausgezogenen Gummiseilen wurde der Schulgleiter geestartet und nach einem kurzen Flug in einer festgelegten Schneise gelandet. Danach wurde er auf einen kleinen Wagen gesetzt und wieder den Hügel hinaufgeschoben, der nächste kam dran. Wir waren glücklich, wenn wir am Wochenende drei Starts bekamen. Ein Fluglehrer betreute uns. In auswertigen Lehrgängen konnte ich mit dem «Grunau Baby» fliegen und kam bis zum Erwerb des Luftfahrerscheins für Segelflieger. Mein schönster und längster Flug dauerte eineinhalb Stunden im Hangaufwind des Tegelbergs bei Füssen. Das alles hatte nichts gekostet. Wir wussten aber sehr wohl, dass es sich um eine «vormilitärische Ausbildung» handelte – der Krieg hatte längst begonnen.
Als ich siebzehn Jahre alt war, wurden wir klassenweise als «Luftwaffenhelfer» zur Flak abkommandiert. Ich hatte am Kommandogerät meinen Platz und musste den Kurs der anfliegenden Flugzeuge feststellen. Ein Vorteil war, dass es am Kommandogerät nicht so laut war und man eine gewisse Übersicht über die Lage hatte. Durch einen kleinen Trick war es mir und fünf weiteren Schulkameraden gelungen, diesen Platz zu ergattern. Wir waren noch gar nicht fertig ausgebildet, als der erste Angriff auf München stattfand. Mit dem neuen Radargerät wurde das erste feindliche Flugzeug entdeckt, als es noch 30 km entfernt war. Es flog auf uns zu, der Scheinwerfer beleuchtet es, und so konnten wir am Kommandogerät das Ziel erfassen und die Koordinaten weitergeben. Am Ende des Jahres ging das nicht mehr so einfach, denn die Engländer warfen in Massen Lametta-Streifen ab, die die Radargeräte hinderten. Wir schmückten damit unsere kleinen Christbäume in unseren Baracken.
Zum Militär meldete ich mich freiwillig, um zur Luftwaffe zu kommen, ich wollte Pilot werden. Mitten in der Infanterie-Ausbildung, die jeder Soldat durchmachen musste, landeten die Engländer am 6. Juni 1944 an der Küste der Normandie. Man schaffte uns in einer Nachtfahrt an die neu entstandene Front. Der Hauptmann unserer Kompanie war Münchner. Er hatte anscheinend Gefallen an mir gefunden und machte mich zu seinem Melder. Bei dem Versuch, einen von den Engländern gebildeten Brückenkopf zu beseitigen, wurde der Hauptmann verwundet. Auf einem Fahrrad konnte ich ihn zum Verbandplatz schieben und gab ihm noch einen Apfel aus meiner Hosentasche mit. Nach Kriegsende traf ich ihn in München auf der Straße wieder, er war geheilt und erinnerte sich noch dankbar an den Apfel.
Man versuchte uns doch noch in Frankreich, Holland und Belgien auszubilden. Urlaub gab es keinen. Im Februar ging die Offensive weiter. Als Melder hatte ich nachts eine Meldung in ein Gehöft zu bringen, das unter Beschuss lag. Dabei bekam ich einen Schlag auf den rechten Oberschenkel. Später bemerkte ich, dass mich ein Splitter getroffen hatte. Ich war leicht verwundet, konnte aber noch laufen. Ein Pferdefuhrwerk nahm mich mit zum Lazarett, wo mir der Splitter herausoperiert wurde – zum Glück hatte man noch genug Betäubungsmittel. Ich hoffte, der Krieg würde zu Ende sein, bevor meine Wunde geheilt ist. Doch das war nicht der Fall, ich musste noch einmal raus. Es wurde die schlimmste Zeit, die ich erinnere.
Am 1. Mai kam ich in englische Gefangenschaft. Die erste Nacht mussten wir dicht bei dicht im Sitzen schlafen. «Wenn jemand aufsteht, wird geschossen», hieß es. Als ich aufwachte, standen schon viele und unterhielten sich mit den polnischen Posten. Ein solcher berichtete, er habe einmal einen deutschen Spähtrupp kommen sehen. «Sollen wir schießen?», fragte er seinen Unteroffizier. Die Antwort: «Nein, die haben auch Mütter, wir nehmen sie gefangen.»
In großen Zeltlagern wurden wir schließlich hinter Stacheldraht gehalten, jeweils 3000 Mann. Vormittags beteiligte ich mich am Chorsingen, das ein Opernsänger aus Köln leitete, und nachmittags lernte ich mit einer kleinen Gruppe Mathematik und Physik bei einem Lehrer, der das angeboten hatte. «Bring Papier und Bleistift mit!», war mir empfohlen worden. Das zur Verfügung stehende Klosettpapier war so glatt, dass man darauf schreiben konnte und einen Bleistiftstummel konnte ich gegen eine halbe Tagesration eintauschen.
Im September 1945 wurde ich vom Militärdienst entlassen. Wir bekamen etwas Geld mit und wurden in Viehwagen bis München-Laim gebracht. In einer überfüllten Straßenbahn erfuhr ich, dass nach 22 Uhr niemand mehr auf der Straße sein dürfe. Ein nahes Schulhaus bot Unterschlupf. Alle Tische und Stühle waren jedoch schon belegt, ich fand ein leeres Regal, in dem ich bestens schlafen konnte. Am nächsten Tag kam ich endlich wieder heim! Im gleichen Jahr noch ging mein Kindheitswunsch in Erfüllung: Ich bestand die Aufnahmeprüfung an der Technischen Hochschule in München und konnte Mathematik und Physik für das höhere Lehramt studieren. Es schloss sich die staatliche Lehrer-Ausbildung an, die ich mit einer Arbeit über «Astronomie im Schulunterricht» beendete. Damit konnte ich mich «Assesor» nennen – ich war Beamter. Ein Jahr lang unterrichtete ich an einer staatlichen höheren Schule in München.
Während des Studiums nahm ich an einem anthroposophischen Jugendkreis teil. Wir arbeiteten die «Philosophie der Freiheit» und die «Theosophie» durch. Dort lernte ich Rudi Kühn kennen, ein Mitarbeiter an der Sternwarte, der die Außenstelle auf dem Wendelstein, einem Berg der Voralpen nahe Rosenheim, betreute. Bei einem Besuch erfuhr ich, dass man dort eine Hilfskraft für eine wissenschaftliche Arbeit suchte. Gerne nahm ich diese Stelle an und bat beim Ministerium um Beurlaubung. Diese wurde jedoch nicht gewährt.
Damit stand ich vor der Entscheidung, entweder weiter an staatlichen Schulen zu unterrichten oder den Beamten-Status mit allen damit verbundenen Vorteilen aufzugeben und am Berg zu bleiben. Die Entscheidung fiel mir nicht schwer, schließlich war mein Ziel die Waldorfschule.
So lebte und arbeitete ich ein Jahr am Wendelstein. Es war eine schöne Zeit für mich. Ein Anliegen von Rudi Kühn war es, die Himmelskunde in der Bevölkerung zu verbreiten. Immer wieder erlebte er, wie wenig die einfachsten Erscheinungen am Himmel, z.B. das Zu- und Abnehmen des Mondes, verstanden wurde. Als er verunglückt war, versuchte ich, sein Anliegen fortzusetzen. Daraus entstand später mein Buch «Erscheinungen am Sternenhimmel», das inzwischen in 4. Auflage erschienen ist. Viele Vorträge und Seminare hielt ich über dieses Thema.
In freien Zeiten sah ich mir die Welt an, so gut es mit dem Fahrrad ging: Ich besuchte die Schweiz und kam dabei nach Bern, an den Genfer See und durch das Wallis. Ein andermal fuhr ich ins damalige Jugoslawien und zurück über die Großglocknerstraße, wo ich einen Tag lang schieben musste – danach aber eine herrliche Abfahrt hatte. Eine weitere Fahrt führte mich nach Venedig und Pisa. Allerdings hatte ich das Rad am Gardasee eingestellt und bin per Anhalter weiter gefahren.
Nach dem Besuch des Seminars für Waldorfpädagogik begann ich 1953 mit dem Unterrichten in der Oberstufe an der ersten Waldorfschule in München-Schwabing. Eines Tages war Not in der Mittelstufe und man fragte mich, ob ich bereit wäre, eine fünfte Klasse zu übernehmen. Ich sagte zu. Diese Entscheidung habe ich nie bereut, dieses Alter lag mir mehr. Ich hatte also auch Fächer zu unterrichten, die ich nicht gelernt hatte. Dabei bemerkte ich, dass ein Stoff, den ich mir mühsam aneignen musste, viel besser ankam als das, was mir geläufig war und ich aus dem Ärmel schütteln konnte. Eigene Bemühungen sind das, was pädagogisch wirksam ist.
Zu einer Tagung für Mathematik- und Physik-Lehrer in München kam eine Kollegin der Hamburger Waldorfschule namens Margarethe Glashoff. Sie sollte nach der Tagung ihren Schülern etwas über die Alpen beibringen, die sie noch nie gesehen hatte. Ich schlug ihr vor, nach der Tagung noch etwas zu bleiben und fuhr mit ihr ins Karwendel. Schon ein Jahr später heirateten wir. Es wurden uns drei Kinder geboren, ein Mädchen und zwei Jungen.
Meine Mutter führte als Kunsthandwerkerin eine kleine Fima. Auf der Fahrt nach Venedig lernte ich in einer Ausstellung die großen Mobiles von Calder kennen. «Was der im Großen macht, können wir im Kleinen machen», dachte ich und baute ein Mobile mit Strohsternen. Es kam auf der nächsten Messe in Frankfurt gut an – Mobiles wurden modern. Meine Mutter entwarf einige andere Modell und schließlich konnten wir eine Auswahl von etwa 80 verschiedenen Mobiles anbieten.
Das Spielzeug für unsere Kinder hatte ich meist selbst gebaut. Ich machte es serienreif und wir erweiterten die Firma mit diesen Spielzeugen. Eines Tages war das Konzept klar: Wir stellen Spielzeug mit den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer her. Diese vier Elemente faszinieren Kinder und waren und sind ein guter Gegensatz zum neu aufgekommenen Computer-Spielzeug. Aus der Erfahrung mit diesen Spielzeugen entstanden die Büchlein «Spielen mit Wasser und Luft» sowie «Spielen mit Erde und Feuer».
Neben der Schule verlangte also das Geschäft mehr und mehr meinen Einsatz. Meistens habe ich nachmittags Pakete gepackt und sie vor 18 Uhr zur Post gebracht. Nach dem Abendessen kam die Vorbereitung zum Unterricht am nächsten Tag dran. Die Zeit war knapp, ich habe gelernt, intensiv zu arbeiten. Oft haben mich Kollegen gefragt, wie ich das denn schaffen würde, das Geschäft und die Schule zu meistern? Ich wusste es auch nicht, aber schließlich habe ich es begriffen: Ich habe mich bei der einen Tätigkeit von der anderen erholt.
Nach der Pensionierung habe ich immer wieder Mal ausgeholfen, meistens gab ich Himmelskunde-Epochen. Die Kollegen waren froh, denn dieses Gebiet ist immer noch wenig geläufig. Und ich konnte mich dem Garten widmen und damit meine Frau entlasten. Mein jüngster Sohn ist inzwischen Fluglehrer für Segelflieger geworden, wenn ich mal wieder fliegen will, brauche ich es nur zu sagen. Start und Landung überlasse ich ihm und das Kurbeln im Aufwind auch. Zwischendrin darf ich den Steuerknüppel in die Hand nehmen. Gleiches gilt auch für den Motorsegler, mit dem wir zusammen schöne Flüge machen konnten. Jetzt ist mir das Fliegen nicht mehr so wichtig, ich bin lieber in der Landschaft und zeichne und beschäftigte mich wieder mit den «Platonischen Körpern». Daraus ist mein aktuelles Buch entstanden.