Ich denke an meinen allerersten eigenen Schreibtisch, an dem ich mit sieben Jahren ein Wörterbuch einer ganz neuen, eigenen Sprache entwickeln wollte – einer Geheimsprache. Sie ist dann aber nie über die ersten paar hundert Wörter der ersten beiden Buchstaben des Alphabets hinausgekommen. Wie immens viele Wörter machen Sprache aus, und was für Gesetze gibt es da nicht alles! Das ist wie Leben, unerklärbar kompliziert und doch so wohl geordnet. Ein erster Gottesbeweis. Wer sonst könnte diesen Organismus geschaffen haben – und nicht nur einen, sondern viele, in vielen Ländern der Welt. Ich wuchs in einer Umgebung auf, in der fremde Sprachen lebten. Meine Mutter hatte in der Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen gearbeitet, war Weltenbürgerin und hatte viele Freunde in aller Welt.
Ich schrieb eigentlich immer schon, meist nur für mich selbst. Tagebücher. Mit dreizehn Jahren gründete ich eine Schülerzeitung, das Pausenbrot am Mariengymnasium in Jever. Viele Geschichten wurden begonnen, nichts wirklich fertig, bis ich mit fünfzehn anfing, kürzere Texte in Angriff zu nehmen. Kurzgeschichten, die mich heute ein wenig erschrecken, weil sie eigentlich Lebensentwürfe waren, aus denen vieles später Wirklichkeit wurde.
Als Austauschschülerin in den USA erlebte ich, dass an meiner amerikanischen Schule das Schreiben ernst genommen wurde. Geschichten wurden in professionellen Magazinen gedruckt! Das «Wort» war inzwischen Englisch. Briefe – wie viele Briefe ich damals schrieb! –, dann juristische Arbeiten, die nicht weiter schön formuliert sein mussten, obwohl mir Journalismus mehr gelegen hätte. Die dänische Sprache kam dazu. Keine Zeit zum Schreiben, kleine Kinder und viele andere Aufgaben. Und doch – Tagebuch in drei Sprachen zwischen Tür und Angel. Der Schreibtisch war in dieser Zeit eher ein Ort zum Lernen und Papiere anhäufen …
Im Studium der Waldorfpädagogik wurde das Wort lebendig: Sprachgestaltung und Eurythmie erwiesen sich als wichtige Übersetzungshilfen, schufen Nähe zwischen dem Wort und mir. Objektive Schönheit des Wortes. Als Lehrerin wuchs wieder die Faszination über die Strukturen der Sprachen, kam die Frage der Siebenjährigen in neuer Form wieder: Gibt es ein höheres Gesetz hinter all diesen Regeln, die ich in der Grammatik lehre? Lerne ich Sprachen durch Grammatik – oder erlebe ich ihr inneres Gesetz? Vielleicht ist es sogar ein und dasselbe Gesetz in allen Sprachen, das WORT eben, nur verschieden ausgestaltet?
Die Frage nach dem Wort ist die Frage nach dem WORT, das am Anfang war, das waltet und das dabei wird. Als Priesterin arbeite ich nun mit diesem großen Wort, hoffe, dass es mich gebrauchen kann. Und so hat mich das Schreiben wieder eingeholt – erst im Kleinen, dann überfiel mich ein Buch, das geschrieben werden wollte. Mein Leben mit dem Heiligen Land* bettelte um das nächste. Und irgendwo lauert Maria Magdalena …
Schreiben heute: Ein Teil des Berufes, ganz frei. Der Eck-Schreibtisch mit «Teilseesicht», das Stehpult daneben, der alte Ledersessel in der Ecke des Arbeitszimmers, das blaue Sofa im Wohnzimmer, die Bank am See, der ICE, die Wartehalle am Flughafen, die Cafeteria in der Sprachgestaltungsschule Mischkan haMila («Wohnung des Wortes») in Harduf, Galiläa, die Veranda im Gästehaus auf Spiekeroog …
Es ist überall – das Wort. Indem ich es spreche, wird es einen Moment lang konkret. Indem ich es schreibe, halte ich es fest. Ich weiß, dass das nicht geht, aber doch sein will. Ich bete, dass das Wort der Menschen lebendig bleibt!
Lesen Sie hier auch das Interview mit Ilse Wellershoff-Schuur!