Als mir vor einigen Jahren plötzlich die Idee zu dem Buch, Ich. Eine Kulturgeschichte des Individuums, kam, habe ich begriffen, dass ich bereits mein ganzes erwachsenes Leben daran gearbeitet habe. Das Thema – Würde, Wert und Möglichkeit des Individuums – findet sich in fast allem, was ich seit 1976 geschrieben habe, als meine erste Chronik in einer norwegischen Tageszeitung gedruckt wurde.
Mein Enthusiasmus für dieses Thema blieb mir glücklicherweise erhalten, ebenso wie mein Übermut – wie hätte es ohne gehen sollen? Es war schließlich ein unmögliches Buch: Selbst wenn ich mich auf Europa und die europäische Kultur beschränkte, musste ich ja sämtliche Texte, verfasst von Homer oder handelnd von Harry Potter, einbeziehen, musste auf die philosophischen Gedanken von Sokrates bis Sartre und darüber hinaus hinweisen, auf die bildende Kunst von Myron bis Moore. Denn die Geschichte des Individuums ist kurz gesagt die Geschichte unserer gesamten Kultur.
Der Titel Ich bezeichnet jedoch nicht nur die Individualität, die ich in der Geschichte aufgespürt habe, sondern auch auf mich und mein Interesse. Dies ist mein Buch. Auch wenn ich es für andere geschrieben habe. Ebenso wie die meisten Autoren träume ich natürlich von so vielen Lesern wie möglich. Und ich habe noch einen anderen Traum, dass ich nämlich schon in meiner Jugend auf ein solches Buch gestoßen wäre. Deshalb handelt es sich nicht nur um eine von mir erzählte Geschichte, sondern um die Nacherzählung von Mythen und Geschichten. Es gibt immer eine erste Begegnung mit ihnen. Vielleicht hat der eine oder die andere
dieses Erlebnis durch mein Buch.
Das vielleicht Spannendste, das mir bei der Beschäftigung mit dem Thema auffiel – ganz zu meiner eigenen Überraschung –, war, dass die Spur, der ich folgte, sowohl zum Individuum wie auch zum Totalitarismus des 20. Jahrhunderts führte. Diese zwei Gesichtspunkte schienen nicht nur verschieden, sondern gegensätzlich zu sein. Trotzdem haben sie im modernen Individuum einen Schnittpunkt: Sehe ich mich selbst als «Ich» und bin zugleich imstande, den anderen als ein «Du» zu sehen, bleibt die Freiheit des Individuums erhalten. Sehe ich den anderen allerdings als ein «Es», ein Ding, ist die Versuchung groß, sich als dessen Herr aufzuspielen.
In unseren Tagen wird die Idee eines freien Individuums oft in Richtung des «selfmade man» verstanden, einer Person, die sich nach den Regeln der freien Marktwirtschaft durchboxt. Mein Verständnis unterscheidet sich jedoch grundsätzlich davon: Der Einzelne ist abhängig von anderen, und ein fruchtbares «Wir» kann nur aus einer selbstständigen Persönlichkeit entstehen, die aufgrund ihrer Selbsterkenntnis die anderen ebenso sehr im Blick hat wie sich selbst.
Wenn es etwas gibt, das man als «Wert des Westens» bezeichnen kann, ist es das Ideal des freien, verantwortlichen Individuums, das dem anderen und sich selbst Würde und Wert verleiht.
Nun liegt mein Buch in gedruckter Form vor – und ich sitze immer noch am Schreibtisch: am nächsten Zeitungsartikel, am nächsten Buch, und irgendwie am gleichen Thema. Denn ich schreibe über unsere Wirklichkeit. Und die ist multikulturell geworden – ein Ort, an dem wir ständig etwas über uns und die anderen lernen können. Sie ist eine glänzende Möglichkeit, einen Blick für den anderen zu entwickeln sowie sich selbst als Individuum mit eigener Kultur zu entdecken – und auch die Fähigkeit, eben diese Kultur zu verändern.