Meinen Schreibtisch teile ich mit Ihnen – er ist das Leben. Es schreibt mir ständig die interessantesten Geschichten, und zwar in der Begegnung mit den Menschen, die ich bei meiner Arbeit in der Klinik antreffe. Es sind besondere Menschen. Menschen, die aus dem Alltag herausgefallen sind, die von ihrem Leben in eine besondere Herausforderung gestellt wurden. Es sind zumeist Menschen, denen unmissverständlich und eindeutig klar ist, dass sie mehr sind als ein Haufen Biochemie, der «repariert» werden soll. Menschen denen es bewusst ist, dass ihr Heilungsprozess mehr erfordert als die medizinische, oft lebensrettende Unterstützung. Diesen Menschen ist bewusst, dass sie sich auf einen Weg begeben müssen, der ein Entwicklungsprozess mit offenem Ausgang sein wird.
Ist es der richtige oder der falsche Weg? Diese Frage löst sich auf, sobald die innere Gewissheit erfahrbar geworden ist, dass es mein Weg ist. Franz, der miterleben musste, wie seine Frau trotz allen Ringens und Wollens, trotz allen Glaubens und Betens am Ende ihres Lebenslaufes angekommen war, und der sie mit seinen drei kleinen Kinder und uns im Sterben begleitet hat, sagte: «Wir würden es genauso wieder machen!» In diesem Moment erlebte ich, unabhängig von dem Resultat: Ihr Weg war für sie alle stimmig. Richtig und falsch existierten nicht mehr.
Erstaunliche Hilfe kommt nach der Entscheidung für den eigenen Weg oft von vielen Seiten: Menschen, denen man neu begegnet, Mitbetroffene mit jahrzehntelanger Erfahrung, beispielsweise im Umgang mit einer Tumorerkrankung. So ergibt sich immer wieder Raum für neue Entwicklungen.
Kurz vor Johanni traf ich einen Patienten aus einem fernen Land, der seit über 30 Jahren in Deutschland zu Hause ist. Er war in einer führenden Universitätsklinik mit einer Krankheitsdiagnose und wenig Hoffnung verheißenden Prognose konfrontiert worden. Jetzt sitzt dieser tief erschütterte Mensch in meinem Gesundheitsseminar in der Klinik Öschelbronn in einem Kreis mit Mitbetroffenen. In seiner Nähe sitzt eine Patientin, die nach Bestrahlungen und Chemotherapie auf ihre innere Stimme gehört und die weitere Behandlung abgelehnt hat. «Dann werden Sie bald sterben!», gab man ihr zu verstehen – das war vor fünf Jahren. Sie begann, viel für sich zu tun, vor allem hat sie sich nicht davon abbringen lassen, ihren Glauben, ihr Vertrauen und ihre Hoffnung in lebendige «innere Filme» zu übersetzten und sich kontinuierlich diese Filme in ihrer Phantasiewelt zu realisieren. Heute gilt sie als tumorfrei.
Nun sitzen diese beiden Menschen beieinander und tauschen sich aus. Arthur scheint aus der Schockstarre ganz langsam ein wenig aufzutauen, und es scheint, als würde sein Atem sich mit etwas Hoffnung begleitet ausdehnen können – Hoffnung darauf, dass etwas Neues möglich ist.
Ich staune jeden Tag darüber, was eine Begegnung, was geteilte Erfahrungen in uns in Bewegung bringen können – wenn wir offen sind und unser Werden mitgestalten wollen. Nichts ist! Jede Diagnose ist eine Momentaufnahme des Augenblickszustandes, etwas «Künstliches», herausgenommen aus dem Strom des Werdens. Man kennt es von Fotos, wie befremdend können solche Momentaufnahmen sein, da dort ein Augenblick aus dem Strom des Werdens eingefroren ist. Dieser Augenblick – dessen sind wir uns bewusst – ist eine Momentaufnahme aus dem Werden. Und am Werden bin ich immer beteiligt. Davon kann ich mich täglich an meinem großen Schreibtisch überzeugen.