Es ist seltsam, wenn man völlig unerwartet gebeten wird, das Geschenk für die Kinderbuchwoche in den Niederlanden zu schreiben. Ich fühlte mich wieder ganz so wie früher in der Schule: Du sollst für den Lehrer eine Geschichte oder einen Aufsatz schreiben und du weißt nichts. Du kaust auf deinem Stift herum, schaust aus dem Fenster, zappelst herum, schnauzt deinen Nachbarn an, bist genervt und weißt nichts. Was soll ich schreiben? Etwas Lustiges oder etwas Ernstes? Etwas Erfundenes oder etwas, das wirklich passiert ist?
Bei der letzten Frage wusste ich es: Ich wollte etwas schreiben über früher, über den Krieg und über etwas, das ich mich nie zu erzählen getraut habe.
Ich war elf, als der Krieg ausbrach. Am ersten Tag war es noch schön: Die feindlichen Flugzeuge flogen so tief, dass man die Gesichter der Piloten im Cockpit sehen konnte. An Stadtrand – ich wohnte in Delft – sah man Fallschirmspringer, die gewissermaßen aus dem Himmel auf die Erde herabgeschwebt kamen.
Später wurde es spannender und auch beängstigender. Dieselben Fallschirmspringer schossen um sich und versuchten, die Stadt zu besetzen.
Wir mussten erst einige Wochen später wieder zur Schule. In der Klasse wurde es langsam anders. In ihr gab es nicht nur jüdische Kinder, sondern auch Kinder von Widerstandskämpfern und Kinder von NSB-Eltern,* die von meinen Eltern als Landesverräter betrachtet wurden. Selbst unser Lehrer traute sich nicht mehr, alles zu sagen. Ein Wort gegen die Deutschen, und er konnte im Gefängnis landen.
Ich ging in die sechste Klasse. Viele Freunde hatte ich nicht. Ich trug (schon seit meinem dritten Lebensjahr) eine Brille und war dadurch unheimlich schlecht in Völkerball. Am liebsten las ich, und das macht einen nicht beliebt. Ich konnte allerdings gut schwimmen, und das machte es wieder ein wenig gut.
Eigentlich gab es nur einen Jungen in der Klasse, mit dem mich etwas verband. Ich weiß gar nicht mal mehr, ob er genau wie ich gern las oder Sport nicht ausstehen konnte. Es ist sehr schwierig zu wissen, woher dein Gefühl kommt. Aber so war es: Kees und ich hatten ein Gefühl füreinander. Es war, als würden wir uns auch ohne Worte ein wenig verstehen. Kees war genauso vorsichtig und zurückhaltend wie ich. Es dauerte eine Weile, bis wir uns verabredeten, miteinander in den Wald von Rijswijk zu gehen. Wir durften aber nicht hinein, weil die deutschen Soldaten dort übten.
Ich glaube, wir haben damals eine geschlagene Stunde auf einer Bank miteinander geplaudert – so wie zwei alte Männer, denke ich jetzt. Die Freundschaft war besiegelt.
Ich weiß sicher, dass Kees sich genauso gefreut hat wie ich.
Die Freundschaft dauerte, bis meine Mutter entdeckte, dass Kees’ Eltern «verkehrt» waren. Seine Eltern waren NSB-ler. Und wir, wir hatten Untergetauchte im Haus. Leute, die von den Deutschen gesucht wurden.
Wie es mit mir und Kees weiterging, habe ich nie zu erzählen gewagt. Es steht zwar in Krieg und Freundschaft, aber wie autobiografisch es ist, kann ich schwer sagen. In diesem Buch ist alles wahr und doch zu einer Art neuen Wirklichkeit miteinander verwoben. Im Lauf der Jahre war mein Gefühl für unsere Freundschaft angewachsen zu einer Freundschaft zwischen echten Freunden, geharnischt im Lauf der Jahre. In Wirklichkeit war sie vielleicht sogar nicht mehr als ein Anlauf zu einer Freundschaft. Die Begegnung zweier einsamer Seelen, eine Freundschaft, die durch den Krieg zerbrochen wurde und nicht wachsen konnte, aber gerade dadurch nicht mehr aus meinem Leben wegzudenken war.
Es bleibt sich übrigens gleich, wie lange oder kurz Freundschaften dauern. Sie bleiben, bis sie in einem selbst sterben.