Der Löwenanteil der Arbeit an einem Buch findet bei mir nicht am Schreibtisch statt. Die Geschichten meiner Reisebücher stammen aus den unterschiedlichsten Winkeln der Welt. Für mein aktuelles Buch Heute kauf ich alle Farben dagegen bin ich lange durch die labyrinthische Innenwelt des Protagonisten Ton Hafkamp (1949 – 2013) gereist. Von Beginn an war es mein Anliegen, mich in die Welt dieses Menschen zu vertiefen, der mit einer enormen Willenskraft die Schizophrenie besiegt hatte.
Die Arbeit mit dem bislang unberührten Material, das mir hierfür zur Verfügung stand – Interviews, Notizen, sein umfangreiches und akkurat angelegtes persönliches Archiv inklusive zahlreicher Zeichnungen – war unfassbar spannend. Sein Leben lang hatte es unter einem Gewebe aus Schlaf und Vergessenheit verborgen gelegen. Jetzt lag es offen vor mir. Mit diesem Material vergrub ich mich einen kompletten Monat lang in einem Schriftstellerhaus. Abgesehen von den Archivstücken, die ich auf Tischen und dem Fußboden um mich herum ausgebreitet hatte, war ich ganz allein. – Mit weitem Flügelschlag flog ich über die Texte, manchmal im Gleitflug, dann tief in ausgesuchte Passagen eintauchend. Um mir das Basismaterial vollständig aneignen zu können, begab ich mich intensiv auf die Reise in Tons Leben – und entdeckte dabei immer wieder neue Aspekte, weitere Besonderheiten und neue Bedeutungszusammenhänge in Bereichen, die ich bereits zu kennen gemeint hatte. Und immer wieder offenbarten sich neue Dimensionen. Ich konnte an einer bestimmten Stelle der Geschichte innehalten und mir alles in Ruhe anschauen, um dann noch einmal zu einem früheren Punkt zurückzugehen, was in einem normalen Interview unmöglich ist.
Anhand unserer Gespräche und des Studiums seiner Werke begann ich, Tons innere Reise nachzuvollziehen, und abends rief ich ihn an, um Details und Fakten zu überprüfen. So konnte ich nach und nach die bedeutenden Eckpunkte an Ort und Stelle räumen. Dann stellte ich mir sein Leben in einzelnen Bildern vor, Großaufnahmen entstanden. In diesem Stadium ging es um die sinnliche Ausarbeitung. Auf diese Weise inspiriert, schrieb ich meinen ersten Entwurf. In vollkommener Stille.
Nach intensiven Stunden der Konzentration ging ich nachmittags joggen oder spazieren – die einfachste Form der Reise: Solvitur ambulando – Beim Gehen findet sich die Lösung. Am letzten Wochenende im Schriftstellerhaus lud ich Ton ein, die erste Version zu lesen. Damit war es, als hätte ich ein Bild aus seiner horizontalen in eine aufrechte Position gestellt.
Die Ausarbeitung des Skripts fand schließlich zu Hause in meinem Arbeitszimmer im Wintergarten statt. Zwischen sieben und neun Uhr morgens widmete ich mich dem Buch, um mich zwischendurch wieder an die «gewöhnliche» journalistische Arbeit zu tasten, die mittlerweile auf mich wartete.
Das war in Ordnung, denn inzwischen war das Buch so weit vorangeschritten, dass ich Texte auswählte und zusammensetzte. Und da Schreiben süchtig machen kann, saß ich zuletzt doch wieder bis in die späten Abendstunden an meinem Buch.
Man stellt sich das Schreiben oft als etwas Erhabenes, fast Heiliges vor, aber für mich hat es etwas sehr Irdisches. Ich stehe immer wieder von meinem Schreibtisch auf, räume gedankenlos etwas von hier nach dort oder gehe in den Dünen laufen, um dann wieder konzentriert weiterzuarbeiten, bis ich mich schlafen lege. Und bei jedem Buch erlebe ich, dass ich, sobald die Geschichte auf eigenen Füßen steht und ich beinahe durch den Tunnel hindurch bin, so schnell wie möglich loslassen möchte. Denn dann steht die Tür weit offen für eine neue Geschichte.