«Wer sich selbst beherrscht, ist besser als der, der eine Stadt einnimmt.» Dies galt für den niederländischen Philosophen Roland van Vliet (1960 – 2016) schon in jungen Jahren als Leitprinzip.
In seinem Umgang mit der Philosophie war er offen für die verschiedensten Spielarten des Denkens, so konnte er im Gespräch ebenso Buddha wie Jean-Paul Sartre, Rudolf Steiner oder Arthur Schopenhauer zitieren. Seine Bereitschaft, sich auf die unterschiedlichsten Disziplinen und Strömungen der Geistesgeschichte einzulassen, zeichnete ihn sein Leben lang aus. Viele Menschen konnten sich ein Bild hiervon machen, wenn sie seine Vorträge und Seminare besuchten oder ihn auf seinen Studienreisen begleiteten.
Eines der Themen, die ihn intensiv beschäftigten, war die Frage nach Gut und Böse. «Gut und Böse sind abhängig von der Situation: Geduld ist gut und richtig, wenn man auf den Bus wartet, aber schlecht, wenn man einem Ertrinkenden helfen will.»
Van Vliets Hauptanliegen war die Wiederbelebung der Grundlagen des Religionsstifters Mani aus dem dritten Jahrhundert, dessen Lehre er als die zweite Hauptströmung des Christentums bezeichnete. «Mit der Betonung der Aspekte Freiheit und Liebe innerhalb des manichäischen Christentums will ich auf keinen Fall behaupten, dass diese beiden Gesichtspunkte nur hier zu finden seien, sondern darauf hinweisen, dass Mani auf diese Eigenschaften eine bis jetzt nicht erkannte Betonung legte.»
Das Bis-jetzt-nicht-Erkannte – auch dies war eines der Lebensthemen Roland van Vliets. So kann man es beinahe folgerichtig nennen, dass er im Jahr 2008 in Spanien einen bis dahin unbekannten manichäischen Tempel entdeckte. Hinweisen Rudolf Steiners folgend, reiste er nach Nordspanien und entdeckte in Santa María de Lara in der Provinz Burgos eine Kirche aus dem 7. Jahrhundert. «Ich ging hinein und war überwältigt von dem, was ich dort sah: Christus als Sonne (Sol) an der Säule rechts vor dem Altar, und Christus als Mond (Luna) an der linken Säule. Es war das Bild von Jesus als ‹Sonnen-Mond-Gott›, wie es der Manichäismus kennt.»
Van Vliet bringt diesen Tempel mit den Mysterien um Parzival und den Gral in Verbindung. Überhaupt steht Parzival jahrelang im Mittelpunkt seines Forschens. In seinem Buch Wer, denken die Menschen, bin ich?, das van Vliet selbst als sein Opus Magnum bezeichnete, führt er im Kapitel «Ungeteilte Achtsamkeit als moderne Parzivalhaltung» aus: «Ungeteilte Achtsamkeit ist die meditative Grundhaltung des Schaffens eines innerlich leeren Raumes, in dem die Welt des Geistes sich offenbaren kann. Die ungeteilte Achtsamkeit ist das vollbewusste leere Bewusstsein oder ein Bewusstsein des Nichts, in dem der allumfassende Geist sich schenken kann.»
Van Vliet geht hier phänomenologisch-hermeneutisch vor, indem er zunächst einzelne Wahrnehmungsbereiche untersucht, um zuletzt darzustellen, wie inneres und äußeres Erleben miteinander verbunden sind, bzw. wie man «durch die unbefangene Selbstwahrnehmung ganz bei sich selbst und durch die vorurteilsfreie äußere Wahrnehmung ganz beim anderen, sei es Mensch oder Objekt» ist. «Die ungeteilte Achtsamkeit ist daher besonders im Gespräch wichtig und wirksam, da man während des eigenen Sprechens mit Achtsamkeit beim Zuhörer sein muss und es beim Zuhören schaffen sollte, mit seiner Achtsamkeit bei sich selbst zu bleiben.»
Hier schließt sich der Kreis: «Wer sich selbst beherrscht, ist besser als der, der eine Stadt einnimmt» (Sprüche Salomos 16,32). Wer Roland van Vliet kennenlernen durfte, konnte erleben, in welchem Maße dieser Mensch seine philosophischen Ideale zu leben imstande war. Das Gespräch mit ihm wird man vermissen, sein Werk lebt in seinen Büchern und im Kreise der Menschen weiter, die ihm nahestanden.