Wenn ich am Schreibtisch sitze, dann steht die Zeit still. Dann halte ich die Luft an. Und dann atme ich durch. Der Schreibtisch ist der Ort, an dem die Welt verstummt, ihr Sausen und Brausen verklingt – und Stille hörbar wird. Aus dieser Stille, aus dieser Verdichtung heraus schreibe ich.
Der Schreibtisch ist kein Ort, an dem ich sitzen muss. Ich muss nichts aufschreiben. Und dennoch gilt: Ich schreibe nichts auf, was ich nicht aufschreiben muss. Schreiben ist ein freier Akt, eine freie Tat – und die Bedingung dieser Freiheit ist, dass ihr eine Notwendigkeit zugrunde liegt. Die Notwendigkeit, dass das, was ich schreibe, wirklich Schrift werden, wirklich Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, Zeichen für Zeichen erscheinen will.
Der Schreibtisch ist ein stiller Ort. Ein Ort allerdings, der auf die Laute des Lebens angewiesen ist. Ich erfinde nichts am Schreibtisch. Ich finde, was ich schreibe, jenseits davon. Das Leben ist längst Geschichte, wir selbst sind längst Lebensgeschichtenerzähler geworden – was soll da noch erfunden werden? Ich suche am Schreibtisch allerdings immer wieder die Worte für all die Lebensgeschichten. Die Worte für das Leben, das nicht am Schreibtisch stattfindet, finden sich am Schreibtisch.
Der Schreibtisch ist der Umschlagplatz, der Welt in Schrift verwandelt und diese Schrift der Welt wieder anverwandelt. Die Tatsachen, die nicht Schrift waren, finden ihren Weg zum Schreibtisch und kehren von dort als Tatsachen, die Schrift geworden sind, wieder in die Welt zurück. Am Schreibtisch wird die Schrift nicht gezeugt, aber sie wird dort geboren. Das ist die Geburtstagsfeier, die andauernd am Schreibtisch stattfindet.
Immer wieder begegne ich Menschen, die mir sagen, sie hätten etwas von mir gelesen. Damit meinen sie, dass sie diesen oder jenen Text von mir oder über mich gelesen hätten. Was sie jedoch eigentlich getan haben, ist noch viel mehr: Sie haben mich gelesen! Denn das, was ich schreibe, das bin ich auch. Ich bin niemals nur das, was ich schreibe, aber ich bin es immer auch.
Wer also etwas von mir liest, der liest mich. Der schaut mich an. Der sieht mich.
Am Schreibtisch sitze ich stets allein. Und dennoch ist der Schreibtisch kein einsamer Ort. Er lebt vom Leben und er belebt das Leben. Wer mir sagt, dass er etwas von mir oder über mich gelesen hätte, der hat stille Post von mir erhalten. Post, die ich am Schreibtisch geschrieben habe. Post, die von meinem Schreibtisch aus hinaus in die weite Welt gezogen und ins Herz eines anderen Menschen eingezogen ist.
Neulich sagte mir jemand, ich würde, wenn er etwas von mir lese, stets nur über mich selbst schreiben. Das sei sein Eindruck meines Schreibens. Alles nehme bei mir seinen Ausgang und komme schließlich wieder auf mich zurück. Er sagte das weder achtungs- noch vorwurfsvoll, sondern ziemlich nüchtern. Seither denke ich darüber nach, ob es stimmt. Schreibe ich stets nur über mich selbst? Und sollte es so sein: Welche Instanz, welche Ich-Instanz schreibe ich dann eigentlich an, damit nicht nur ich unter dieser Anschrift erreichbar bin? Wie führe ich ein Selbstgespräch, das für andere offen ist?
Übrigens: Ich habe gar keinen Schreibtisch. Mein Schreibtisch ist der Ort, an dem sich das, was ich hier geschildert habe, ereignet.