Wer auch immer die Behauptung in die Welt gesetzt hat, Bücher seien die Kinder eines Autors, gehörte entweder nicht zur schreibenden Zunft – oder war ein schlechtes Elternteil.
Gut, man trägt es eine ganze Weile mit sich herum, und in den letzten Monaten denkt man nur noch an den freudigen Moment, in dem man es aus seinem System pressen kann – aber hier endet der Vergleich. Denn im Gegensatz zu den meisten Eltern strömen Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht über vor Liebe, wenn sie ihren neuen, noch druckfeuchten Roman vorsichtig in Händen halten. Der Prozess hat zu lange gedauert. In dem Augenblick, wenn das Buch da ist, sind sie längst mit etwas anderem beschäftigt. Sie beugen sich über das «Neugeborene» und denken: «Na ja, hätte besser sein können.»
Ich schaue auf Babel* und frage mich, wie um Himmels willen ich das aus mir herausbekommen habe. Es ist so dick, über vierhundert Seiten! Ich vermag in dieser Frucht auch nicht sogleich Züge von mir zu entdecken. Es ist ein Buch über Arm versus Reich, über Religion und Terror, über die Suche nach der Ursprache und die Exzesse dieses beängstigenden 21. Jahrhunderts. Ich selbst mag es licht und fröhlich, und hier darf ich mich mit dunkler Dystopie und Modern Gothic herumschlagen! Ist dieser Balg wirklich von mir? Wie konnte das geschehen? Wer hat diesen Samen in mich gepflanzt?
Anfänglich wollte ich das Aussterben der Sprachen behandeln. Nicht nur die Dialekte, sondern vollständige Sprachkulturen verschwinden ja mit rasender Geschwindigkeit. Das bringt einen als Schriftsteller zum Nachdenken. Welche Sprache wird überleben? Welche Sprache wird andere Sprachen kontaminieren? Wie lässt sich die Evolution vorhersagen?
In meinem ersten Anlauf – nennen wir es das Urbuch – versucht ein Wissenschaftler das herauszubekommen, indem er ganze Kulturen in ein riesiges Gebäude einquartiert. Im ersten Stock findet man ein Stück Tundra, in dem Stockwerk darüber Beduinen in einer Wüste. Schon bald erwies sich diese Idee als nicht umsetzbar für ein Jugendbuch. Aber was hängenblieb, war das Bild eines gigantischen Wolkenkratzers, vollgestopft mit Schlittenhunden, Dschungeln und Kamelen; und mittlerweile hatte ich mich in die Sprachgeschichte vertieft und war so unvermeidlich auf die Geschichte von Babel gestoßen. Ich las, Gott habe den Bau des Turms nicht deshalb gestört, weil er den Hochmut seiner Erbauer bestrafen wollte, sondern aus Furcht, diese könnten sich durch ihre technische Ingeniosität zu seinesgleichen erheben. Der Mensch als Konkurrent Gottes? Das konnte interessant werden. So hat sich der religiöse Aspekt ins Buch geschlichen, zusammen mit dem Thema der Macht.
Themen sind selten das Problem. Sie kommen von selbst. Gibt man nicht acht, übernehmen sie die Regie. Fragt jemand, wovon das Buch handelt, dann drängen sie sich auf. Obwohl es nie um die Themen geht, nicht wirklich. Was zählt, sind die Menschen – la condition humaine. Wovon sollte ein anständiges Buch sonst handeln? Diesmal ist die Beziehung zwischen zwei Mädchen das pochende Herz des Buches. Alice ist lächerlich reich, schmerzhaft isoliert und bereit zur Affektion. Naomi ist arm, hart und im Griff einer grauenhaften Vergangenheit und Babel die Chronik ihrer schwierigen Freundschaft. Und es handelt wie meine anderen Bücher somit letztlich von Liebe und Tod. Angesichts dieser Erkenntnis muss ich die Vaterschaft
bestätigen. Das Kind, so anders als von mir erhofft oder erwartet, ist also doch meines. Ich gestehe es mit einem gewissen Stolz.
Aus dem Flämischen von Rolf Erdorf