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Ute Hallaschka

Seelentiefe

Nr 138 | Juni 2011

Wenn zum Personal einer literarischen Unternehmung ein sehr alter und weiser Uhu namens Aristoteles gehört, dann kann man davon ausgehen, dass es eine wundervolle Reise wird. Die Handlung führt uns in das kleine Städtchen «Tief-da-unten», in der abgelegenen Bergwelt West Virginias. Hier wuchs auch die Autorin Ruth White auf; diesem Fleckchen Heimaterde entlockt sie in ihren Büchern immer neue Bilder und zauberhafte Gestalten. Am schönsten vielleicht in «Tief-da-unten», das ist der Ort, wo wir alle herkommen, das Land der Kindheit, das jeder im Herzensgrund trägt – sein Leben lang. Alles, was wir dort erlebt und erlitten haben und nun an Glück und Schmerz in der Erinnerung tragen, bildet das Fundament der Persönlichkeit. Was die Welt jedoch zu einem Zuhause macht, das ist das Gefühl der Geborgenheit. Das kann man sich nicht selbst geben, dazu bedarf es anderer Menschen.
Was wir in unseren psychologischen Tagen, bei den Abstiegen ins Unterbewusstsein, auf der Suche nach Autonomie so oft verdrängen und vergessen, das ist die tiefe gegenseitige Angewiesenheit auf Liebe und Mitmenschlichkeit. Wer sein Herz befragt und nicht nur analysiert, der wird im innersten Kämmerlein eine leise Stimme hören, die ihm zuraunt: sei gütig. Wir verlangen nach Güte, wir sehnen uns nach ihr, in den anderen ebenso wie in uns selbst. Mit dieser Herzensstimme der Güte schreibt Ruth White.
Was ihre Geschichten neben allem märchenhaften Zauber so tief berührend macht, das ist die Selbstverständlichkeit, mit der das Gute im Menschen erscheint. Wir haben uns doch schon so sehr gewöhnt an das Böse, an seine Banalität, mit der es überall den Alltag durchzieht. Das Gute scheint dagegen die große Ausnahme, ein Wunder, eine Kraftanstrengung. Gut zu sein, das muss man üben, als würde man in einem inneren seelischen Fitnessstudio schwerste Gewichte stemmen.
Ganz anders geht es zu in «Tief-da-unten». Ein Fitnessstudio gibt es nicht, wohl aber die Pension «Zuflucht». Da wird Mensch­lichkeit nicht trainiert, sondern einfach ausgeübt. Es leben Dauer­gäste in dieser Pension, die dort umsonst wohnen und ernährt werden – einfach, weil sie Zuflucht brauchen. Dies macht sie keineswegs zu Almosenempfängern, ihnen wird mit Respekt und Ein­fühlung begegnet. Wieso sollte ein Mensch weniger wert sein, bloß weil spezielle Schicksalsumstände ihn betreffen? Diese und andere Tiefenfragen mag sich der Leser stellen, wenn er durchs Städtchen schlendert und seinen liebenswerten Bewohnern begegnet.
Eines Tages im Juni wird ein kleines rothaariges Mädchen vor dem Gerichtsgebäude gefunden. Wer hat es dort ausgesetzt? Das Kind kann nichts als seinen Namen sagen, Ruby, so heißt die Kleine, wird von Miss Arbutus, der Pensionswirtin, als Tochter aufgenommen und wächst glücklich heran. Doch dann, als Ruby 12 Jahre alt ist, taucht eine Spur ihrer Herkunft auf und reisst sie unvermittelt aus ihrem Dasein. In der Folge zeigt sich, wie ansteckend Güte wirkt. Die Liebe, die Ruby erfahren hat, befähigt sie nicht nur die Krise in der eigenen Biographie zu bewältigen, sondern sie heilt geradezu ver­ganenes Leid, das lange vor ihrer Geburt lag.
Wundersam ist wirklich, wie es der Autorin gelingt, diese Tiefen­schichten in einer buchstäblich harmlosen Heiterkeit zu bergen; man geht durch schmerzliche Seelenlandschaften als Leser ganz unverletzt und doch voll Mitgefühl. Vor allem aber staunend, mit weit geöffneten Augen, sich wirksam erinnernd.
Wie es einmal war, als die Welt ein offenes Buch schien, das auf Entdeckung wartete. Jedes Kind ist zunächst überzeugt, dass sie gut ist, die Welt, in der wir leben. Gelegenheit sich daran zu er­innern, gibt dieses Kinderbuch auch den erwachsenen Gestaltern der Welt.