Im Sommer des Jahres 1940 wurde Bordeaux zum Schauplatz einer der bemerkenswertesten Rettungstaten während des Zweiten Weltkriegs. Nicht nur aus Deutschland flüchteten zehntausende Menschen vor dem Grauen des Nazi-Regimes, sie kamen aus allen Ländern, in die der tödliche Arm der Hitlerschen Vernichtungsstrategie reichte. Und seitdem Frankreich unter den Kollaborateuren der Vichy-Regierung ebenfalls keine Zuflucht mehr bot, versuchten die Flüchtlinge, von Portugal aus Rettung in der Neuen Welt zu finden, wie Erich Maria Remarque in seinem Roman Die Nacht von Lissabon aus dem Jahr 1962 eindringlich schildert.
Letzte Hoffnung Portugal also. Doch in diesem Sommer beschloss der portugiesische Ministerpräsident António de Oliveira Salazar mittels eines Rundschreibens an seine Botschafter, dass «allen Ausländern, die keine triftigen Gründe für eine Reise nach Portugal nachweisen können, sowie solchen, die nicht frei in ihre Herkunftsländer zurückreisen können» die Einreise verweigert werden müsse.
Dieses historische Rundschreiben Nr. 14, mit dem der Diktator sich aus reiner Vorsicht an das NS-Regime anbiederte, bedeutete nichts weniger als das Todesurteil für Zehntausende. Und es wären noch weitaus mehr gewesen, hätte es nicht die eine herausragende Persönlichkeit gegeben ? ein Mann, der sich gegen alle Widerstände und im vollen Bewusstsein um die Konsequenzen dafür entschied, einzig und allein nach seinem Gewissen zu handeln.
Aristides de Sousa Mendes (1885 – 1954), portugiesischer Konsul in Bordeaux und Oberhaupt einer vielköpfigen Familie war derjenige, der zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war und beschloss, Nein zu sagen. Nein zu einem sklavischen Gehorsam gegenüber seinem Vorgesetzten, Nein zu einer menschenunwürdigen Handlungsweise, die allem widersprach, was die Werte des ehemaligen Weltreichs Portugal ausmachte: Die Achtung der Menschenrechte, das Recht des Menschen auf Freiheit.
Unter den Flüchtlingen, die Sousa Mendes in der Botschaft in Bordeaux aufsuchten, um ein Visum für die Weiterreise nach Portugal zu bekommen, befand sich der Rabbiner Chaim Krüger, dessen Worte dem Konsul verdeutlichten, in was für einer außergewöhnlichen Situation er sich befand: «Sie müssen nicht nur mir helfen, sondern all meinen Brüdern, die vom Tod bedroht sind.»
Nach dem Gespräch mit Chaim Krüger wusste Sousa Mendes, was er zu tun hatte. In einer beispiellosen Aktion vergaß er alles andere um sich herum und hatte nur noch ein Ziel: So viele Menschen wie möglich vor dem Holocaust zu retten! Was folgte, war der Einsatz seiner gesamten persönlichen Kräfte – ein Einsatz, der den Journalisten Christian House noch im Jahr 2010 im englischen Independent schreiben ließ: «Sousa Mendes rettete mehr Menschenleben als Oskar Schindler. Warum also ist sein Name nicht ebenso bekannt?»
Tag und Nacht unterschrieb Sousa Mendes fortan Visa, er gönnte sich keinen Schlaf und rettete so nicht weniger als 30.000 Menschen das Leben, unter anderem Persönlichkeiten wie Salvador und Gala Dalí und Otto von Habsburg.
Und die Reaktion in seiner Heimat? Unverständnis und Groll. Sousa Mendes wurde abberufen und für den Rest seines Lebens von der portugiesischen Regierung geächtet, nie wieder bekam er eine staatliche Anstellung.
1966 erhielt er – als einziger Portugiese ? in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ein Ehrenmal und erst im Jahr 1988 wurde er von der portugiesischen Regierung rehabilitiert. Wie ein Aufruf an die Nachwelt ist auf seinem Grabstein zu lesen: «Wer ein Leben rettet, rettet die Welt.»
Von Michael Stehle