Denken ist eine seltsam bemerkenswerte Angelegenheit. Es scheint alle Gegensätze in sich vereinigen zu können. Es verschafft uns schwerste Qual und höchstes Glück, übt sich in kleinteiligster Pedanterie oder schwingt sich zu gewagtesten Höhenflügen auf.
Es pocht auf rationalem Nachvollzug oder dringt zu intuitiver Schöpfung vor. Wir denken drauflos, meist unwissend wie, aber im Vertrauen darauf, dass wir die einmal gefundene Lösung eines Problems werden prüfen, beurteilen und schließlich annehmen oder verwerfen können. Wie gut, dass wir das Denken nicht nur mit dem Gewicht des vollen Ernst des Lebens betätigen müssen, sondern es auch in einem Moment der Muße, unbeschwert und heiter (besonders auch in geselliger Runde) pflegen können – bei einem kunstvoll gestalteten Rätsel von Erika Beltle beispielsweise:
Wenn ich’s sage, / ist es schon gewesen, / aber unaufhörlich treu, / wird’s mit jedem / Tage neu. / Kannst du dieses / Rätsel lösen?
Das ist eines der einfacheren Rätsel unter den 97 Rätseln für Anfänger und alle Liebhaber, die sie in ihrem sechsten Band Dreimal hab ich sie im Leibe* aufgenommen hat. Ein anderes lautet:
Sie ist sehr groß und sehr gewichtig / und drückt die Dinge einfach platt, / was auch an manchen Orten richtig. / Hast du solche Schwere satt, / gib ihr rasch ein kleines Schwänzchen / und dann freue dich am Tänzchen.
Und mit dem Lösungswort eines anderen Rätsels haben wir es in der Welt in diesem Jahr in den erbittertsten und erstaunlichsten Formen zu tun gehabt:
Der Erste ist in jedem Fall dafür. / Der Zweite, skeptisch, unternimmt / zu prüfen erst mit Sach-Gespür, / ob das, was hier zugrund gelegen, / auch wirklich hieb- und stichfest stimmt. / Jedoch der Ganze bleibt dagegen.
Mit achtundachtzig Jahren hat die Dichterin Erika Beltle noch einmal zur Feder gegriffen und die ihr in kürzester Zeit eingefallenen Rätsel aufgezeichnet. «Unerwartet», wie sie schreibt, «hat mir nach einem wetterfreundlichen Jahr der Herbstwind einen Sack voll Nüsse vom Baum geschüttelt, die nun geknackt sein wollen. Auch die Rätselnüsse haben ihren ‹Nährwert› und ihre Süße, denn sie üben die Fantasie sowie ein exaktes Denken und erregen meist ein leises Schmunzeln, wenn man den Kern, von seiner Umhüllung befreit, vor sich hat.» – Es ist ein feiner philosophischer Zug in ihren Rätseln enthalten, auch ein feiner Humor:
Sie ist ohne Eleganz, / nur das Grobe passt hinein. / Nimmt man weg ihr / Hut und Schwanz, / hat man, kurz gesagt, / das Sein.
Und wir als Mitdenker und Löser ihrer Rätsel fühlen uns umso herzlicher ihrer «Lebensphilosophie», die sie als letztes Rätsel gesetzt hat, verbunden:
Wenn ein Anlass ist gegeben, / gibt man gerne ihn im Leben. / In die Zweite kehrt man ein, / allermeistens nicht allein. / Gut zu jeder Lebensfrist / ist’s, wenn man das Ganze ist, / auch, wenn wir mit Schmerzen ringen, / weil nur sie uns weiterbringen.
Von Jean-Claude Lin