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Johannes W. Schneider

Altersweisheit und Altersgüte

Nr 144 | Dezember 2011

Wenn der Mensch in der Krisenzeit der Lebensmitte beginnt, seinen im Leben errungenen Platz gegen die nachdrängenden Jüngeren zu verteidigen, dann wird die Weiche für die Fahrt abwärts, für den Verfall im Alter, bereits gestellt. Denn die Selbstbehauptung verhärtet, und Verhärtung führt zur Erstarrung. Das ist fast berechenbar. Wenn in der Lebensmitte der Sinn für das, was die Welt jetzt braucht, sich öffnet, dann ist ein guter Weg in Richtung auf das Alter eingeschlagen. Aber aus dieser Wendung in der Lebensmitte sind Altersweisheit und Altersgüte, sind die seelische und schließlich sogar leibliche Frische im Alter noch nicht zu erklären.
Dass die Lebenserfahrung zunimmt, dass der Mensch behutsamer urteilt, dass der Blick auf die Ganzheit der Lebensverhältnisse sicherer wird, dass der Mensch für neue Aufgaben eine reichere Erfahrung mitbringt, dass in schwierigen Lebenssituationen der Rat der Alten sich bewährt – das sind Früchte der Lebensarbeit. Aber das ist noch nicht die Alterskultur, das erklärt noch nicht die neue, fast kindliche Frische mancher alter Menschen.
In der chinesischen Kultur gehörte zum Alter eine eigentümliche Erfahrung: Der Bauer, der Handwerker oder der kaiserliche Beamte hatten durch Jahrzehnte redlich gearbeitet, so wie es den Regeln des Lebens entsprach. Und wenn sie im Alter nun auf diese Jahrzehnte zurückblickten, entdeckten sie, dass sie, ohne es zu beabsichtigen, doch recht individuell gelebt und gearbeitet hatten. Die persönliche Eigenart zu betonen, das wäre dem Chinesen recht fremd gewesen, das hätte er wohl gern dem Europäer überlassen. Aber indem der Chinese sich selbst vergaß in seine Arbeit, in sein Leben hinein, wurde er ganz unvermerkt er selbst und zugleich ein guter Chinese. Oder besser umgekehrt: Er wurde ein guter Chinese und dadurch er selbst. Und wer ein guter Chinese ist, braucht nicht mehr nach den traditionellen Lebensregeln zu fragen, sondern er handelt spontan, und so wird er immer mehr und mehr chinesisch.
Oft wird davon gesprochen, dass Menschen im Alter ihren erstarrten Gewohnheiten folgen. Ja, im misslingenden Alter. Wenn aber ein Mensch weise und gütig wird, wenn er eine echte Alters­kultur entwickelt, dann ist er nicht erstarrt, sondern spontan, originell. Der altersreife Mensch wird nicht im Lauf der Jahrzehnte Schritt um Schritt entwickelt, sondern die lebensreife Persönlichkeit bricht hervor wie die Natur im Frühling, wenn die Sonne die Pflanzen hervorlockt. So entfalten sich im Alter, hoffentlich, die Frühlings­kräfte der Seele, die noch nicht zu sehen waren, die aber vielleicht schon gespürt wurden, wenn der Mensch in der Lebensmitte nicht an sich, sondern an die Arbeit dachte, die er für die Welt zu tun hatte. Aus der Selbstvergessenheit in der Arbeit wird die Selbst­vergessenheit im spontanen Handeln. Der alte Mensch fragt nicht, wie er originell handeln könne, sondern er vergisst sich selbst und denkt nur an die Welt. In der Selbst­vergessenheit wird er er selbst.
Unser Weg führt hinaus in die Welt und führt dorthin, wo aus der Welt heraus der Mensch sich selbst entgegenkommt. In der ge­lingenden Alterskultur steht der Mensch nicht mehr der Welt gegenüber, sondern er ist in der Welt und aus der Welt. Der Mensch existiert, weil er die Welt um ihn herum bejaht. Werden wir im Alter, wenn es gut geht, nicht alle ein wenig chinesisch?