Wie stereotype Antworten erscheinen uns die Pressemitteilungen derjenigen, die für eine kerntechnische Anlage in Verantwortung stehen, wenn irgendwo auf der Erde größere Mengen Radioaktivität, meist durch einen Unfall, freigesetzt wurden. Immer wieder hört man den gleichen Satz: «Das kann bei uns nicht passieren!»
So auch am 27. Juni 2006. Der Betreiber des Atomkraftwerkes in Brunsbüttel trat mit diesem Satz vor die Presse, als bekannt wurde, dass es am Vortag im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark zu einem Zwischenfall gekommen war. Später stellte sich heraus, dass es durch Arbeiten an Hochspannungsanlagen außerhalb des Kraftwerkes zu einem Kurzschluss gekommen war, der einen Zusammenbruch des Stromnetzes zur Folge hatte. Es kam zu einer Schnellabschaltung.
Über zwanzig Minuten war das Kraftwerk ohne Kontrollmöglichkeiten. Im Prinzip ist dies nicht so kritisch, da ein Atomreaktor, wenn er sich bei Stromausfall in einem stabilen Zustand befindet, einfach weiterläuft. Aus diesem Grund gibt es die Vorschrift, in den ersten dreißig Minuten einer solchen Situation nicht in den Regelkreis einzugreifen, um Panikhandlungen zu vermeiden. Da jedoch nur vier der acht Kühlpumpen arbeiteten, sank die Wassersäule im Reaktor kontinuierlich. Im «Fall Forsmark» ist es dem regelwidrigen Eingreifen eines Ingenieurs zu verdanken, dass eine Katastrophe wie in Fukushima oder Tschernobyl vermieden werden konnte. Der Ingenieur veranlasste 23 Minuten nach Stromausfall, dass die zwei nicht arbeitenden Notstromgeneratoren von Hand in Betrieb genommen wurden. Diese sprangen glücklicherweise sofort an und verhinderten so Schlimmeres. Hätte man regelkonform noch weitere 7 Minuten gewartet, wären die Brennelemente im Reaktor ohne Kühlwasser gewesen, was eine Kernschmelze zur Folge gehabt hätte.
14 Tage später ging der Betreiber des Atomkraftwerks Brunsbüttel, das wie Forsmark zum Vattenfall-Konzern gehört, wieder mit
der Behauptung vor die Presse, so etwas könne «bei uns nicht passieren», da man in Brunsbüttel andere Technologien einsetze als in Forsmark. Als wiederum 14 Tage später klar wurde, dass in den kritischen Bereichen in beiden Atomkraftwerken exakt die gleichen AEG-Technologien eingesetzt wurden, stellte ein Journalist dem Betreiber von Brunsbüttel die kritische Frage, ob er entweder gelogen habe oder sein eigenes Kraftwerk nicht kenne. Die Antwort ist atemberaubend: Das Wesentliche sei doch die Tatsache, dass so etwas «bei uns» nicht passieren könne. – Dem ist nichts mehr hinzuzufügen – außer der Tatsache, dass dieser augenscheinlich inkompetente «Fachmann» seinen Posten nicht verlor.
Friedrich Dürrenmatt hat in seinem Drama Die Physiker gezeigt, dass ein Zurückhalten von Erkenntnissen in der heutigen Zeit nicht mehr denkbar ist. Aber die Zeit fordert ein Zurückhalten im Handeln. Ob die Menschheit irgendwann einmal bereit sein wird, die Kernkraft in einem «abgesicherten Modus» anzuwenden, sei dahingestellt. Zurzeit sind wir jedenfalls weit davon entfernt, behaupten zu können, wir wären in der Lage, die Kernenergie sicher zu nutzen, da wir auf der Bewusstseinsebene gegen die fundamentalen Gesten dieser Naturkraft verstoßen. Solange die Fragen der Kernenergie auf rein technische Probleme reduziert werden, darf man sie nicht weiter anwenden. Solange man bei der Anwendung der Kernkraft nicht mit der «ganzen Welt» rechnet, bleibt sie prinzipiell unbeherrschbar.