Thomas Gradgrind, Sir. Ein Mann der Realität. Ein Mann der Tatsachen und der Zahlen. Ein Mann, der nach dem Prinzip lebt, dass zwei und zwei vier sind und mehr nicht, und den man nicht dazu überreden kann, mehr daraus zu machen. Thomas Gradgrind, Sir – ganz entschieden Thomas – Thomas Gradgrind. Immer eine Formel und ein paar Tabellen und das Einmaleins in der Tasche, Sir, bereit, jedes Stückchen menschlicher Natur zu wägen und zu messen und Ihnen zu sagen, was es wert ist. Das ist nichts weiter als eine Frage von Zahlen, ein einfaches arithmetisches Problem. Irgendwelchen anderen Unsinn könnten Sie vielleicht George Gradgrind oder Augustus Gradgrind oder John Gradgrind oder Joseph Gradgrind (durchweg hypothetische, nichtexistente Personen) einreden, aber Thomas Gradgrind – nein, Sir! – Dies waren die Worte, mit denen sich Mr. Gradgrind im Geiste sowohl seinem persönlichen Bekanntenkreis als auch einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen pflegte.»
Was hier der redliche, aber phantasiefeindliche Schulleiter Thomas Gradgrind aus Coketown als Lebenseinstellung und Weltanschauung gleich zu Beginn des Romans Schwere Zeiten von Charles Dickens (in der Übersetzung von Ulrike Jung-Grell) zum Ausdruck bringt, ist ziemlich das Gegenteil von dem, was als Esprit den Sudoku-Rätseln der «Einsamen Hunde» zugrunde liegt.
Vielleicht – aber es ist ein sehr zweifelhaftes Vielleicht! – ließe es Thomas Gradgrind zu, dass seine Zöglinge ein Sudoku lösen, solange es nur zur Schulung des logischen Denkvermögens diente. Aus purer Neigung und Lust dürften sie sich aber sicherlich nicht solch müßiger Beschäftigung hingeben. Denn wir haben es bei einem Sudoku nicht mit irgendwelchen «Tatsachen» des Lebens zu tun, sondern bloß mit freien «Schöpfungen» des spielerischen Geistes. Umso mehr gilt dies für die Sudoku-Rätsel der Meisterkomponisten der «Einsamen Hunde». Denn diese sind darauf bedacht, in ihren Schöpfungen Symmetrie, Schönheit und – eben Esprit walten zu lassen.
Der bloßen Logik eines Sudoku-Rätsels genügt die sehr einfache Regel: Setze in jedes leere Feld eine Zahl von
1 bis 9, sodass in jeder Zeile und jeder Spalte und jedem der 3 x 3 Quadrate die Zahlen 1 bis 9 nur einmal vorkommen.
Einige Zahlen in einem 9 x 9 Raster, das wiederum in neun 3 x 3 Quadrate unterteilt ist, irgendwie so vorzugeben, dass daraus alle weiteren nach der obigen Regel logisch zwingend abgeleitet werden können, ist für viele Sudoku-Komponisten ausreichend. Unsere japanischen Komponisten aber, denen auch der schöne Name «Sudoku» («mehrere Einzelne» oder «Einsame») zu verdanken ist, möchten mit ihren Sudokus mehr erreichen. Die Form der Anordnung der vorgegebenen Zahlen, die Variationen in den Sequenzen der Zahlen 1 bis 9 ist ihnen wichtig. Für sie soll ein Sudoku auch ein kleines Kunstwerk für die Betrachtung sein. Es soll phantasie- und lustvoll sein. In diesem Streben nach dem «nutzlosen» Schein des Schönen können sie sich mit Friedrich Schiller einig fühlen. In dem letzten seiner «Briefe» Über die ästhetische Erziehung des Menschen wies Friedrich Schiller darauf hin, wie viel mehr von einem Menschen verlangt wird, der sich über die Tatsachen und die Realität hinaus erhebt: «Dem selbstständigen Schein nachzustreben erfordert mehr Abstraktionsvermögen, mehr Freiheit des Herzens, mehr Energie des Willens, als der Mensch nötig hat, um sich auf die Realität einzuschränken, und er muss diese schon hinter sich haben, wenn er bei jenem anlangen will.» Wie gut ist es, dass wir beim Lösen und Genießen eines schönen Sudoku so viel Abstraktionsvermögen, so viel Energie des Willens und vor allem so viel Freiheit des Herzens erleben und selbst aufbringen können!