Tove Jansson, die Schöpferin der liebenswerten Mumintrolle, erklärte 1967 auf dem Höhepunkt ihres Ruhms überraschenderweise: «Ich will arbeiten, nicht spielen.»
Sie meinte damit, dass sie fortan für Erwachsene schreiben wolle. Ihre «Mumin-Spielerei» hatte ihr bereits die Nils-Holgersson- und die Elsa-Beskow-Plakette sowie den gewichtigen HC-Andersen-Preis eingebracht. Wieso also nicht weitermachen? Reizte das Neue? Und warum zuerst ein Blick zurück auf die eigene Kindheit?
Tove Janssons kurzer Roman Die Tochter des Bildhauers ist der literarische Wendepunkt ihrer Karriere. Er avancierte zum Klassiker und wurde in ebenso viele Sprachen übersetzt wie ihre Kinderbücher. Klug, sensibel, pointiert und humorvoll erzählt die Autorin die Geschichte ihrer fantastischen Kindheit, von Bürgertum und Bohème, Geborgenheit und Abenteuer gleichermaßen geprägt.
Was der Goldene Schnitt ist oder wie ein Wald gemalt werden muss, wie Künstlerfeste gefeiert werden und was man einen Künstler unter keinen Umständen fragen darf – über all das weiß die kleine Bildhauertochter haargenau Bescheid. Sie schläft in der elterlichen Atelierwohnung auf dem «Schlafregal» und steckt die Welt durch Modellierholz und Stifte mit 4B-Minen ab. Sie weiß, dass sie nur ihre Augen zusammenkneifen muss, um die Konturen verschwimmen und das Leben im Atelier zum Bild erstarren zu lassen. Auch im Sommer, wenn die Familie angelt, Pilze sammelt oder Stürme erlebt sieht das Künstlerauge immer mit. Eine faszinierende, eigenwillige Welt eröffnet sich dem Leser, wenn diese begnadete Erzählerin von Mutter, Vater, Kind, Kunst und Liebe spricht.
Tove Janssons Leben war 1967/68, als die Tochter des Bildhauers entstand, in einer Umbruchphase. Die Zeit der Mumin-Bücher schien vorbei. Nach der jahrelangen ermüdenden Serien-Zeichnerei für The Evening News hatte sie nur noch zwei Mumin-Bücher geschrieben. Sie unterscheiden sich im Ton deutlich von den früheren, sind subtiler, psychologisch ausgefeilt, eigentlich schon für Erwachsene geschrieben. In den zuletzt erschienenen Inselabenteuern, war die Muminfamilie gar aus ihrem idyllischen Tal auf eine einsame Insel ausgewandert. Das bedeutete im Gesamtgefüge der Geschichten einen gewagten Schritt, aber er war gelungen, es war ein gutes, kluges Buch geworden. Nun schien es, als seien die Mumins ihrer Schöpferin selbst abhanden gekommen. Das Schreiben wollte nicht mehr fließen und 1967 konnte sie nur noch alte Geschichten überarbeiten – sie nannte es «säubern».
Dann jedoch setzte der Wille zu einem neuen Schreiben sich durch, der literarische Prozess um die «Bildhauerstochter» kam in Gang und Tove Jansson fühlte sich glücklich. Und unsicher. Sie zweifelte an jedem geschriebenen Satz und schrieb ihn um. «Es ist schwer, aber ich bin glücklich, überhaupt wieder einen Stift in der Hand zu halten – und nicht nur desperat Altes zu säubern», bekennt sie im Herbst 1967. Auch für viele Leser war ein Buch von Tove Jansson ohne die Figuren der Muminwelt eine Herausforderung. Einige Kritiker lasen aus der Tochter des Bildhauers das «Mumintal der Wirklichkeit» heraus. Andere warfen Fragen nach Eskapismus und Bürgerlichkeit auf und rechneten mit der privilegierten Künstlerfamilie und ihrer Lebenseinstellung fern der «lebensabtötenden Fabriksirenen» ab – man schrieb schließlich das Jahr 1968. Tove Jansson war, 54-jährig, mit ihrer ich-erzählenden und selbstzentrierten «Tochter» also rettungslos unzeitgemäß.
Persönlich unzeitgemäß war auch die Selbstdefinition als Tochter des Bildhauers. Sie war schon viel mehr als das und bedeutend berühmter als ihr Vater. Der Titel ist als Liebeserklärung an ihren damals schon verstorbenen Vater zu verstehen. Sie hatte nie aufgehört, seine Kunst zu bewundern, auch wenn ihr Verhältnis nicht immer einfach war.
Tove Jansson tat das Richtige, das ihr einzig Mögliche. Sie eroberte sich neues Handwerkszeug und suchte nach sich selbst. Sie konnte neu beginnen, als sie anfing, mit dem Alten abzuschließen.