«Essen fürs Ich!» So lautete einmal ein Werbeslogan, der mich immer wieder ärgerte, wenn ich ihn irgendwo las oder hörte. Vor allem mein Herz widersprach heftig, weil es ans Du dachte, das Wir wollte.
Leicht zuckt es immer noch bei diesem Satz – und doch hat sich mein Blick auf ihn geändert, nachdem ich Lunchbox von Ritesh Batra gesehen habe. In seinem Spielfilmdebüt nämlich erzählt Batra eine Verwechslungs- und Liebesgeschichte, die nicht nur den etwas abgenutzten Satz, dass «Liebe durch den Magen geht», neu glänzen lässt. Er lässt uns Schauenden zudem miterleben, wie Saajan (von Irrfan Khan herrlich störrisch und wehmütig-zärtlich verkörpert), ein älterer, einsamer, ein nichts mehr suchender und hoffender Büroangestellter, Bissen für Bissen, Geschmacksnuance für Geschmacksnuance zu sich selbst zurückfindet. Ja, er isst für sein verloren gegangenes, lebensbejahendes Ich!
Doch was Saajan da aus der ins Büro gelieferten Lunchbox kostet, war anfangs gar nicht für ihn bestimmt. Denn eigentlich versucht Ila (von Nimrat Kaur wunderbar traurig-zart und trotzig-stark gespielt) durch ihre hingebungsvoll zubereiteten Köstlichkeiten ihren untreuen Ehemann Rajiv für sich zurückzuerobern. Sie kocht fürs Du. Sie zaubert fürs ersehnte Wir.
Was Ila in ihrer winzigen Küche an Verführungen kreiert, lässt den Magen schon beim bloßen Anblick knurren. Selten wollte ich Filmszenen riechen können – hier habe ich es mir gewünscht. Assistiert – vielmehr verfeinernd angeleitet – wird Ila von ihrer Nachbarin Mrs. Deshpande, «Auntie» genannt, die man wegen ihrer liebenswürdigen Spitzfindigkeiten und kleinen bösen Nebenkommentare schnell ins Herz schließt und ins eigene Haus wünscht, auch wenn man im gesamten Film nur ihre Stimme beim Dialog durchs Küchenfenster kennenlernt.
Schon die Namen der Gerichte klingen nach Fernweh: «Aloo Amritsari», «Bharva Bhaingan», «Dahi Bhalle».
Der Weg aber, den sie in den Lunchboxen durch die indische Millionenstadt Mumbai, von den Einheimischen meist immer noch Bombay genannt, zurücklegen, ist Abenteuer und Wunder zugleich. Und Ritesh Batra lässt uns staunend daran teilhaben: Rund 5000 Essensboten, «Dabbawalas», denen Batra schon einen Dokumentarfilm gewidmet hatte, strömen via Rad und Zug jeden Tag aus, um aus privaten Wohnungen oder professionellen Küchen zwischen 175.000 und 200.000 Essen zu holen, diese an die Tische der Büroangestellten zu liefern und später wieder zurückzubringen. Ein ausgeklügeltes Code-System aus Buchstaben, Ziffern und Farben schließt trotz zahlreicher Übergaben auf dem Weg Fehler praktisch aus. Nur eine von 6.000.000 (ja, sechs Millionen!) Lieferungen soll ihr Ziel verfehlen, wie Studien belegen.
Lunchbox erzählt von diesem einen «Fehler» und schenkt uns so eine Liebesgeschichte der stillen und dadurch starken Art. Denn der Fehler ist nicht einmalig. Er wiederholt sich zum statistischen Trotz Tag für Tag. Und mit jeder Lunchbox, die ihr «richtiges» Ziel erreicht, trifft ein Brief ein. Und mit jedem Brief, jeder «stillen Post» zwischen Ila und Saajan, kommen sich zwei einsame Seelen näher …
Wie nah? Kein Kommentar! Das muss man selbst herausfinden – die mir bekannten Meinungen gehen auseinander. Einig ist man sich hingegen, dass schon allein die Bilder und liebevollen Seitenstränge und Figuren (allen voran der von Nawazuddin Siddiqui gespielte nimmermüde Optimist Shaikh, den Saajan erst widerwillig als Nachfolger einarbeitet, um dann einen treuen Freund in ihm zu finden) jede Filmminute lohnen.