Miri ist dreizehn. Sie mag den Winter nicht. «Definitiv!» – «Und Schnee?», frage ich sie. «Mmh, geht so.» Als ich die schwere Eisentür hinter uns zuziehe, sind wir unvermittelt von Kälte umgeben.
-22 °C wirken auf uns. Unter unseren Füßen: blankes Eis. Miri reibt sich instinktiv die Hände, legt sie schützend auf ihre Wangen. Sie wirkt für einen Moment erstarrt, irritiert. Ihr Blick wandert umher und findet drei Glasscheiben, auf denen Eisblumenfelder wachsen. Sie staunt. Und sieht «extraleichte Vogelfedern, hauchdünne Farnblätter und ganz, ganz feine Blüten».
Ein Polarisationsfilter bringt Farbe ins Spiel, offenbart Miri die im Eis verborgenen Spannungskräfte. Für sie zeigt sich: «Rot ist echt dicht, blau ziemlich gelöst.» Lila und orange geben ihr Rätsel auf. «Auf jeden Fall ist hier alles extra zart.»
Die Eiszapfen, die gleich neben den Eisblumenbeeten von der Decke und in die Höhe wachsen, findet Miri «groß und mächtig». Beim Darüberstreichen mit den bloßen Fingern verspürt sie leichte Wellen und Rippen. Sie «be-greift»: Vereisung ist ein ständiges Hin und Her zwischen fest und flüssig, geschieht rhythmisch. Und dann diese hellweiße Wand. «Die blendet mich und ist unendlich weit weg», erklärt sie mir. Von ganz nah erkennt sie Schneekristalle. «Nein, eigentlich sind das ja Tausende zusammengeduckte kleine Schmetterlinge.» Wir stehen in der Eiskammer von Schloss Freudenberg und lachen. «Jetzt weiß ich, warum es ‹cool› heißt», sagt Miri lachend.
Noch vor wenigen Jahrzehnten standen sich im Jahreslauf «bitterkalt» und «flirrend heiß» naturgegeben entgegen. Bei extremer Winterkälte zauberte jeder Hauch an eine dünnglasige Fensterscheibe Eisblumen hervor, kam Lebendiges blitzschnell zur Ruhe. Die im Hochsommer herrschende Gluthitze sorgte bei den Menschen während der Arbeit auf dem Feld für das Gefühl, die Welt löse sich in Höhe des Horizonts auf, ließ Festes fließend erscheinen. Wenn alte Menschen von solchen Erfahrungen erzählen, überstrahlen das wach gerufene verinnerlichte Staunen über diese grandiosen Naturphänomene und das aus der Erinnerung aufscheinende Gefühl, etwas Wunderbares erlebt zu haben, die Geschichten mit einem wohltemperierten Schimmer. Eiskalte Bettdecken und Beinahe-Ohnmachten scheinen vergessen. Auch Miri hat sich während der knappen Viertelstunde, die wir zusammen in der Eiskammer waren, nur ganz am Anfang mal die Hände gerieben …
Überschuss und Mangel an Wärme haben sich heutzutage auf «mehr oder weniger warm» eingependelt. Schloss Freudenberg eröffnet die Möglichkeit, die Wärmequalitäten «heiß» und «kalt» wieder einmal ganz bewusst zu spüren.
Als ich Miri zwei Stunden nach unserer ersten Begegnung noch einmal im Erfahrungsfeld sehe, steht sie am Bienenwachstopf, um sich eine Kerze zu ziehen. Duftende Hitze steigt ihr entgegen, ihre Wangen glühen. Alles spricht dafür, dass Miri den Winter mag. Definitiv.
Matthias Schenk, künstlerischer Leiter von Schloss Freudenberg, hat vor fünf Jahren, «beim Abkratzen vereister Autoscheiben» entschieden: «Dem Winter einen Raum geben, das ist meine nächste Aufgabe.» Keine einfache, wie sich schnell herausstellte. So sehr sich Kältetechniker und Schloss-Handwerker auch ins Zeug legten: Statt weißer Eiskristalle entwickelte sich grauer Matsch, an Stelle von Schneeflocken stellten sich fiebrige Erkältungen ein. «Erst als uns die Bildekräfte in den Sinn kamen, ging es bergauf», so Schenk. Seitdem experimentiert das Schloss-Team in der Eiskammer mit Quellwässern, Kräutertinkturen und Blasmusik. Und siehe da: Der Eisgarten gedeiht.